Neue Züricher Zeitung 7.10.1999

Das EU-Parlament für Mitgliedschaft der Türkei

Knapper Ausgang der Abstimmung in Strassburg

Das EU-Parlament in Strassburg hat mit einer äusserst knappen Entscheidung eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union für grundsätzlich wünschenswert bezeichnet und damit der Absicht der Mitgliedregierungen, Ankara einen Kandidatenstatus zuzubilligen, unterstützt. Die EVP lehnte dagegen eine Aufnahme der Türkei erstmals offen ab.

uth. Strassburg, 6. Oktober

Mit einer knappen Mehrheit hat das Europäische Parlament in Strassburg die angestrebte Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union als einen wichtigen Beitrag für die künftige Entwicklung der EU und für Frieden und Sicherheit in Europa bezeichnet. Ein Antrag der EVP-Fraktion, diese Passage aus der Entschliessung zu streichen und ihre Aussage damit ins Gegenteil zu verkehren, wurde mit 221 gegen 218 Stimmen abgelehnt. Mit dieser Resolution unterstützt das Parlament die Absicht von Rat und Kommission, der Türkei am kommenden EU-Gipfel im Dezember in Helsinki den bisher abgelehnten offiziellen Status eines Kandidaten zuzuerkennen. Voraussetzung müsse aber bleiben, dass die von der EU in Kopenhagen festgelegten Kriterien erfüllt werden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Schutz der Minderheiten müssen ebenso gewährleistet sein wie eine freie Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt standzuhalten. Wann dieser Punkt erreicht sein wird und wann damit offizielle Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können, darüber wagte kein Abgeordneter eine Prognose.

Neues Denken

Obwohl die Türkei von allen Beitrittskandidaten über die weitaus engsten vertraglichen Beziehungen zur EU verfügt, wurde ihr auf dem EU- Gipfel Ende 1997 die Gleichbehandlung mit den anderen Bewerberländern verweigert. Ankara wurde bereits im Assoziierungsabkommen mit der EU aus dem Jahr 1963 das grundsätzliche Recht auf Vollmitgliedschaft in der EU zugesichert, und seit dem 1. Januar 1996 besteht eine Zollunion zwischen der EU und der Türkei. Trotz diesen langen und etablierten Beziehungen wurde der Türkei wegen der Menschenrechtssituation lediglich eine Heranführungsstrategie angeboten, die von Ankara jedoch als Zurücksetzung gegenüber den anderen Kandidaten empfunden und daher brüsk abgelehnt wurde. Aus demselben Grund nahm die türkische Regierung nicht an den beiden speziell auf ihre Anbindung ausgerichteten Europa-Konferenzen im März 1998 in London und im Oktober 1998 in Luxemburg teil. Durch den Regierungswechsel sowohl in der Türkei als auch in mehreren EU-Staaten, zusätzlich unterstützt durch intensiven diplomatischen Druck aus den USA, erfolgte dann langsam wieder eine Verbesserung des Verhältnisses. So erklärten inzwischen der türkische Ministerpräsident als auch der Aussenminister, dass sie die Kriterien von Luxemburg akzeptieren wollten. Auf der Gegenseite scheint auch der neue Kommissionspräsident eine Änderung gegenüber der früheren, eher zurückhaltenden Meinung der Kommission zum Beitritt der Türkei vorgenommen zu haben.

Verschiedene Wendemanöver

Der sich jetzt abzeichnenden offiziellen Kehrtwendung in der Türkeipolitik der EU stemmten sich vor allem die Christlichdemokraten (EVP) als grösste Fraktion im Strassburger Parlament vehement entgegen. Sie verkündete erstmals offen und - mit Ausnahme der Briten - einmütig, dass sie grundsätzlich gegen eine Aufnahme der Türkei sei, weil dies die bisherige Struktur der EU sprengen und ihre politischen Ziele verändern würde. Der Fraktionsvorsitzende Pöttering erklärte, die EVP suche weiter enge partnerschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zur Türkei und wolle dafür ein Forum schaffen. Auch stehe es ausser Frage, dass die Türkei eine europäische Berufung habe, aber wenn man ihr in Helsinki den Kandidatenstatus gebe, was solle man dann später der Ukraine oder Russland sagen, wenn man ihnen das gleiche verweigern wolle.

Den Konservativen warfen die Christlichdemokraten Opportunismus vor, weil sie das Anliegen der Türkei dazu missbrauchten, durch eine grenzenlose Erweiterung die EU wieder auf den Status einer erweiterten Freihandelszone zurückzuführen. Die Aussprache zeigte dann auch, dass eine fast völlige Umkehrung der politischen Standpunkte gegenüber der Debatte von 1995 erfolgt ist, als das Parlament die Zollunion mit der Türkei billigen musste. Damals unterstützte die EVP die möglichst enge Anbindung der Türkei an Europa vor allem mit der daraus zu erwartenden innenpolitischen Stabilisierung des Landes, aber auch mit seiner strategischen Bedeutung an der südöstlichen Flanke des Kontinents. Diese Argumentation wird nun von denjenigen übernommen, die damals die Zollunion mit dem Argument der mangelnden demokratischen und rechtsstaatlichen Reife des Landes und seiner Missachtung der Menschen- und Minderheitsrechte ablehnten. Am deutlichsten ist die Kehrtwendung bei den Liberalen zu erkennen, die seit den letzten Europawahlen von Abgeordneten der Prodi-Liste aus Italien und den britischen Liberalen dominiert werden. Die Sozialisten enthielten sich dagegen als Fraktion einer Stellungnahme und gaben die Abstimmung frei. Entsprechend unterschiedlich fielen bei ihnen die Beurteilungen aus.