Süddeutsche Zeitung, 7.10.1999

Besuch bei der griechischen Gemeinde in Istanbul

Ein Feindbild kommt ins Wanken

Die schweren Erdbeben in der Türkei und in Griechenland haben die Menschen beider Länder einander näher gebracht

Von Hubert Wetzel

Istanbul, im Oktober - Der alte Grieche, der in der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit die Opferkerzen hütet, will nicht reden - schon gar nicht über Politik. Nein, zur neuen Freundschaft zwischen Griechen und Türken könne er nichts sagen. Kaum 2000 Griechen leben noch in der 15-Millionen-Stadt Istanbul, Anfang der sechziger Jahre waren es 120 000. Auf den Übriggebliebenen lastet die Erinnerung an die Zeit dazwischen, als ihre Verwandten und Freunde zu Zehntausenden aus dem Land getrieben wurden. Die Angst, das Falsche zu sagen, sitzt tief bei den Griechen in der Türkei.

Dann redet der Alte doch. Die Angststarre der Istanbuler Griechen löst sich ein wenig in diesen Wochen. Er spricht in dem gleichen empörten Tonfall weiter, in dem er die Fremden zuvor abgewiesen hat. Türken und Griechen seien sich in letzter Zeit schon näher gekommen, sagt er, es kämen jetzt mehr Türken zu seiner Kirche, um unter den orthodoxen Ikonen eine Kerze anzuzünden.

"Das Verhältnis wird wärmer"

Bei den Erdbeben in Izmit und Athen im August hat auch die Mauer zwischen Türken und Griechen Risse bekommen: Während die türkischen Behörden die Bebenopfer im Stich ließen, gruben Katastrophenschützer aus Griechenland in den Trümmern nach Verschütteten. Einige Tage später schaufelten in Athen Retter der türkischen Organisation Akut um das Leben von Griechen. Von den alten Streitthemen wie Cypern oder dem EU-Beitritt der Türkei ist kaum noch die Rede. Dafür sprach der griechische Außenminister Georgios Papandreou bei seinem Türkei-Besuch am Wochenende von einem "neuen Kapitel" in den Beziehungen zu Ankara - einem friedlichen. Den Türken scheint das nur recht zu sein: Muammar sitzt mit ein paar Freunden in der Teestube. Er zweifelt zwar noch etwas, dass die Erdbeben die alten Feinde wirklich zusammen gebracht haben. Aber er sagt auch: "Das Verhältnis war kalt, jetzt wird es wärmer." Seine Freunde sind weniger skeptisch. Die Griechen seien keine Feinde, meint Ziya, "wir einfachen Leute könnten gut mit ihnen leben" - wenn da nicht die Politiker und "ausländische Mächte" wären. "Die versauen immer alles und hetzen uns gegeneinander." Und dann ziehen die drei Türken über die Regierungen in Ankara und Athen her. "Wir schießen die Politiker ab, dann wird man sehen, dass Griechen und Türken sich lieben", schlägt Ziya vor, und Mehmet schreit dazwischen, der Respekt für die griechischen Erdbebenhelfer sei größer gewesen als für die eigenen Leute. Am Ende ist auch Muammar überzeugt: "Scheiß' auf die Feindschaft und die Politiker", sagt er.

In der griechischen Mädchenschule von Istanbul ist der Ton feiner. Sultan Abdulhamit II. ließ das Gebäude 1883 errichten, heute blickt Kemal Atatürk, Vater der Türkischen Republik, streng von den Wänden der Zimmer. Vor zwei Wochen ist auch Konstantinos Zappas, der Schulgründer, wieder eingezogen. Türkische Nationalisten hatten die Statue des Griechen während der Cypern-Krise 1974 zerschlagen. Jetzt steht Zappas restauriert in einer Ecke der Bibliothek.

Der Mann, der Zappas wieder zusammenfügen ließ, heißt Hidir Tas. Er ist Türke und stellvertretender Direktor der Schule. Tas weiß zunächst nicht recht, was er von den Besuchern halten soll. Fremde haben hier eigentlich keinen Zutritt, ein nervöser Grieche hält am Schuleingang Wache. So sitzt Tas still auf dem Sofa, während seine Chefin Despina Filipos mit lauter Stimme die Freundschaft zwischen Griechen und Türken lobt. "Schaut her, wir sind wie Bruder und Schwester", ruft die Griechin und haut ihrem schmächtigen Vize auf die Schulter. Dann schimpft auch Despina Filipos auf die Politiker, die alles kaputt machten. "Aber nach den Beben haben die Bürger den Politikern eine Lektion in Völkerfreundschaft erteilt." Hidir Tas - ein türkischer Staatsbeamter mit zwei Fremden in seinem Büro, die dort nicht sein dürften - sitzt auf dem Sofa. Er strahlt.

Ein anderer Türke strahlt nicht. Auch er arbeitet in der griechischen Schule, seinen Namen will er nicht sagen. Von seinem mageren Gehalt ernährt er fünf Kinder. Das Wenige, was er hat, will er nicht durch Kritik an der Regierung verlieren. Der Türke schimpft nicht über die Mächtigen in Ankara - er schämt sich für sie. "Wir haben den Griechen so viel Angst eingejagt", sagt er leise.

Die Jungs, die Angst einjagen, sitzen im zweiten Stock eines Hauses an einer Einkaufsstraße. Drei "Graue Wölfe" hängen in der Wohnung herum, Mitglieder der Jugendorganisation der rechtsextreme Nationalen Bewegungspartei (MHP), die seit der letzten Wahl in Ankara mitregiert. Die Wände sind mit weißen Halbmonden auf rotem Grund bepflastert. In einem Glaskasten verehren die Jungwölfe den Pullover eines Kameraden, der von Linken getötet wurde. Aber selbst die Grauen Wölfe geben sich zahm in diesen Tagen. Es sei gut, das Türken und Griechen sich näher kommen, sagt Naci. "Wir vertragen uns nicht besonders, aber ewige Feindschaft herrscht zwischen uns nicht." Es gebe ja keinen Unterschied zwischen beiden Völkern.

Als der Name Osman Durmus fällt, wird das Gespräch allerdings unangenehm offiziell. Durmus ist MHP-Mitglied und Gesundheitsminister der Türkei. Sein Beitrag zur Erdbebenhilfe bestand unter anderem darin, Blutspenden aus Griechenland abzulehnen. Naci darf nichts mehr sagen, jetzt redet Ayhan. Er klingt, als verlese er eine Presseerklärung der Partei. Der "verehrte Minister", sagt Ayhan, habe damals leider seine Meinung nicht vollständig dargelegt. "Die marxistische Presse hat ihn dann einen Rassisten genannt" - und plötzlich steht ein Vierter im Zimmer, der aussieht, als erledige er ab und an das Grobe für die Partei. Er wirf einen Blick in die Runde, lächelt und geht. Vielleicht wollte danach auch der versöhnliche Naci noch seinen Ruf als gefährlicher Grauer Wolf verteidigen. Rüde fordert er vom Dolmetscher den Ausweis und schreibt sich Namen und Adresse ab.

Mit seiner nervösen, empörten Stimme hat der alte Grieche in der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit gesagt, er hoffe, dass künftig mehr Türken das griechische Gotteshaus besuchen. Vielleicht kommen eines Tages die drei Teetrinker, Muammar, Ziya und Mehmet. Naci und seine Kameraden werden vorerst wohl noch anderweitig zündeln.