jw, 5.10.99

Mafia ohne Grenzen?

jW sprach mit Tahir Hassan aus Südkurdistan/Irak

(Der 33jährige gehörte 1993 zu den zehn Gründungsmitgliedern der Arbeiter-Kommunistischen Partei des Irak. Er ist heute Mitglied in deren Politbüro und im Zentralkomitee der Partei und für die kurdischen Gebiete des Irak zuständig)

F: Vor acht Jahren haben die USA Südkurdistan vom Irak abgetrennt, um es als Druckmittel auf den Irak zu benutzen. Sehen Sie heute Parallelen zur Situation im Kosovo?

Auch der Konflikt zwischen Indien und Pakistan, die Situation in Afghanistan und die Entführung Abdullah Öcalans sind Bestandteile der »Neuen Weltordnung«. Heute gibt es eine Mafia ohne Grenze. International versuchen Mafia-Banden, Unterdrückung zu verbreiten. Sie kennen keine Grenzen mehr. Das macht die Zukunft sehr düster.

Zur Zeit des Golfkrieges galt Amerika als der Sieger des Kalten Krieges und wollte seine militärische Macht weltweit unter Beweis stellen. Der Konflikt zwischen dem Irak und Kuwait wurde von den USA dazu benutzt, um vor der ganzen Welt seine eigenen machtpolitischen Interessen durchzusetzen und sich international als Weltpolizei zu präsentieren. Es ging nur um die wirtschaftlichen Interessen der USA und um nichts anderes. Im Krieg gegen den Iran und den Panislamismus waren Saddam Hussein und sein Regime die Gewinner. Saddam galt als Held in der arabischen Welt, und das hat ihn ermutigt, Kuwait zu erobern. Das gab aber den USA die Gelegenheit, ihre Polizeirolle zu spielen.

Kurdistan ist nur ein Teil eines weltweiten Konfliktes. Die Nationalisten in Kurdistan haben von Anfang an auf die Hilfe der USA gehofft. Kurdistan wurde vom Irak abgetrennt und in die Hände der Nationalisten gegeben. Unter der Bezeichnung »Schutzzone« wird Kurdistan der Status einer normalen Gesellschaft verweigert. Kurdistan ist heute weder ein eigener Staat, noch Bestandteil eines anderen Staates, sondern es gibt nur ein einziges großes Flüchtlingslager und unendliches Elend.

F: Wie ist die soziale Situation?

Südkurdistan ist heute ein Land ohne Gesetze, ohne feste Regeln, ohne Regierung. Die Gesellschaft hat keine Orientierung. Die Gesellschaft ist völlig zerrüttet. Schulen, Gerichte, Fabriken - alles ist in einem katastrophalen Zustand. Kinder müssen die Schulen verlassen, um die Familien zu ernähren. Kurdistan ist eine sehr parteiische Gesellschaft. Die meisten Menschen sind in politischen Einrichtungen organisiert.

Doch Kurdistan hat auch zwei Gesichter. Ein Unterschied zwischen Irakisch-Kurdistan und zum Beispiel Afghanistan ist, daß es hier Parteien wie unsere gibt und geben kann. Es gibt also eine Alternative zu Nationalisten, während in Afghanistan die Alternative aus den Taliban, Hekmatyar und anderen Nationalisten und Islamisten besteht. In Irakisch-Kurdistan sind Kommunisten in der Gesellschaft verwurzelt. Es existieren viele Gruppen, die gegen die Islamisten aktiv sind. Die Frauenfrage ist zu einem echten Konfliktthema zwischen den fortschrittlichen Menschen und den rückständigen Sektoren unserer Gesellschaft geworden.

F: Welche Lösung für die Probleme in Südkurdistan kann es geben?

Es gibt eine ungelöste nationale Frage in Kurdistan. Und es ist notwendig, darauf eine Antwort zu geben, die sowohl auf die nationale Frage als auch auf die politische Situation in der ganzen Region eingeht. Entscheidend ist für unsere heutige Situation, daß das Recht der betroffenen Menschen anerkannt wird, selber über ihr Schicksal zu entscheiden. Wollen die Menschen ein Teil des Irak sein oder nicht? Wollen sie ein eigenes Land haben oder nicht? Das muß in einem Referendum geschehen, das sechs Monate dauern soll. Die UNO muß das Referendum überwachen und die bewaffneten Kräfte der kurdischen Parteien müssen sich zurückziehen. Man sollte die Menschen einfach entscheiden lassen, ob sie eine Trennung vom Irak wollen, ein eigenes Landes mit einer nicht-religiösen Regierung.

Interview: Nick Brauns