junge Welt 2.10.1999

Alles nur Folklore?

Behörden in der BRD verharmlosen türkische MHP.

Von Dominik Müller

An Häuserwände gemalte Symbole der Grauen Wölfe künden in Köln seit Monaten von den neu erwachten Aktivitäten der türkischen Faschisten in einigen rechtsrheinischen Stadtteilen. Wandparolen linker türkischer Organisationen werden mit »Bozkurtcula«, der türkischen Bezeichnung für die »Sturmtruppen« der »Partei der nationalistischen Bewegung« MHP übermalt.

Schon lange vor dem Mord an Erol Ispir am 1. Juli scheuten Anhänger der MHP auch vor brachialer Gewaltanwendung nicht zurück: Am frühen Abend des 8. Mai schlugen mehrere türkische Männer einen regelmäßigen Besucher des Vereins für türkische Arbeitsmigranten AGIF auf einem belebten Platz zusammen. Er sei den Grauen Wölfen als Kurde bekannt gewesen, der in Gesprächen mit rechten Jugendlichen immer seine Meinung gesagt hätte, erklärt ein Sprecher von AGIF. Auch in linksrheinischen Stadtteilen waren rechte Schlägertruppen aktiv. Nach Augenzeugenberichten überfielen Mitte Juni dreißig türkische Faschisten ein kurdisches Kulturcamp im Kölner Stadtteil Riehl.

Die Auseinandersetzungen in Deutschland stehen im engen Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen in der Türkei. Nach der Festnahme Abdullah Öcalans verkündete der Nationale Sicherheitsrat, ein Gremium aus ranghohen Militärs, Polizeiführern und einigen Ministern, daß nun der »Kampf« auch verstärkt gegen die Opposition in Europa geführt werden soll. Seit der mit der Inhaftierung Öcalans einhergehenden Hetze gegen die kurdische Bevölkerung in nahezu allen türkischen Boulevardblättern und Fernsehsendern verzeichnet vor allem die MHP als selbsternannter Gralshüter der türkischen Identität enormen Zulauf. Sie profitierte davon bei den jüngsten Parlamentswahlen in der Türkei, verdoppelte ihren Stimmenanteil auf über 18 Prozent, avancierte zur zweitstärksten Kraft und stellt nun den Juniorpartner der Regierung in Ankara. Das hat auch ihre Position in Deutschland gestärkt.

»Ehrenvolle Menschen«

In Köln spürt man Verschiebungen politischer Machtverhältnisse in der Türkei früher als andernorts, denn die Stadt ist Hauptsitz der meisten türkischen und kurdischen Exilorganisationen in der Bundesrepublik. Und diesmal ist mit der MHP in Ankara eine Partei an die Macht gekommen, deren Ideologie und Praxis berüchtigt ist: Die 1969 von Alpaslan Türkes, einem glühenden Verehrer von Adolf Hitler, gegründete Partei propagiert ein »Großtürkisches Reich« von Bosnien bis China, sieht Kurden und Armenier als »minderwertig« an und pflegt einen militanten Antikommunismus. Sie wurde mit Rückendeckung durch den US-Geheimdienst CIA gegen erstarkende linke Organisationen in der Türkei eingesetzt. Allein bis 1980 gingen 5 000 Morde an Gewerkschaftern, kritischen Journalisten und Politikern auf ihr Konto. Experten gilt sie als entscheidende Kraft zur Vorbereitung des von der NATO gedeckten Militärputsches 1980 in der Türkei, dem damals »westlichsten Bollwerk gegen Rußland«. Heute sind MHP-Anhänger und Mitglieder im Verwaltungsapparat zu finden, stellen nach wie vor große Teile der Spezialeinheiten der türkischen Armee in Kurdistan und sind eng mit dem türkischen Geheimdienst MIT verflochten. Im Unterschied zu den 70er Jahren ist die Situation für MHP-Gegner heute allerdings schlechter. Damals gab es eine antifaschistische Mobilisierung in der Türkei, die MHP war in der demokratischen Öffentlichkeit geächtet. Heute gehören die Repräsentanten der Partei fest zur politischen Elite und dürfen bei keiner Talk-Show fehlen.

Ein Autounfall im türkischen Sursuluk offenbarte wie kein anderes Ereignis die Zusammenarbeit zwischen Staat, Mafia, Geheimdiensten und MHP: 1996 kamen drei Menschen ums Leben, als ein gepanzerter Mercedes mit 200 Stundenkilometern in einen Lkw raste. Der einzige Überlebende war der kurdische Stammesführer Sedat Bucak, dessen Privatarmee gemeinsam mit den türkischen Spezialeinheiten gegen den kurdischen Unabhängigkeitskampf operiert. Er gilt außerdem als große Nummer im Drogengeschäft und war hochrangiger Politiker der »Partei des rechten Weges« (DYP). Einer der Toten war Hüseyin Kocadag, der mit zahlreichen Vollmachten ausgestattete Chef der »Abteilung für Terrorismusbekämpfung« der Istanbuler Polizei. Gonca Us, ebenfalls Insassin des Wagens, galt als Gefährtin des berüchtigsten Unfallopfers: Abdullah Catli, dem »zweiten Mann« in der damaligen Riege der Grauen Wölfe. Seit 17 Jahren stand Catli u. a. wegen zahlreicher politischen Morde auf internationalen Fahndungslisten, arbeitete Anfang der 80er für den türkischen Geheimdienst MIT und gilt als einer der Drahtzieher des Attentats auf Papst Johannes Paul II im Mai 1981.

Trotz der offensichtlichen Verbindungen staatlicher Institutionen mit terroristischen Kreisen verhinderten sowohl der damals wie heute amtierende Staatspräsident Süleyman Demirel als auch Außenministerin Tansu Ciller weitere Ermittlungen. »Diese Menschen, die für das Vaterland schießen und erschossen werden, sind ehrenvolle Menschen«, erklärte Ciller in einer Parlamentsrede zum Sursuluk-Unfall.

Speerspitze der Bewegung

Nach ihrem jüngsten Wahlerfolg versucht die MHP, sich in der Öffentlichkeit gemäßigt zu geben. Der neue Führer, Devlet Bahceli, behauptet, er habe die »Mafia- Elemente« in der Organisation der Grauen Wölfe »liquidiert«. Die türkischen Boulevardblätter haben diese Version übernommen und verkünden, die MHP habe sich »geändert«.

In Deutschland organisiert sich die MHP auf Basis einer Vereinsstruktur, die sich als »Türkische Gemeinschaften«, »Idealistenvereine« oder einfach als »Kulturvereine« bezeichnen. Auch einige Moscheen sind fest in der Hand der Grauen Wölfe, obwohl die MHP als laizistisch gilt. Als Reaktion auf die Wahlerfolge der islamisch-fundamentalistischen Wohlfahrtspartei in der Türkei gewann Anfang der 70er Jahre der Islam in der Parteipropaganda der MHP immer mehr an Bedeutung.

Die Beziehungen der MHP zu politischen Kräften in Deutschland sind untrennbar mit der Person des 1997 verstorbenen Alpaslan Türkes verbunden. Schon Anfang der 40er Jahre galt er führenden SS-Offizieren als der interessanteste »Verbindungsmann« zum türkischen Geheimdienst. Im Nachkriegsdeutschland pflegte Türkes Kontakte zur NPD und reihte sich in den Freundeskreis um den CSU-Politiker Franz-Josef Strauß ein. Bei den öffentlichen Auftritte von Türkes in der Bundesrepublik war stets der türkische Botschafter zugegen, und hochrangige türkische Politiker schickten ihre Grußbotschaften. »So wie die MHP in der Türkei als ein Arm der Kontraguerilla fungiert und heute wichtige Teile des >Sicherheitsapparates< kontrolliert, ist auch in Europa davon auszugehen, daß die verschiedenen Tarnorganisationen (die Vereine - d. A.) ebenfalls als Aktionsbasis für den türkischen Geheimdienst MIT dienen«, so Nora Mielke 1995 in der Zeitschrift »analyse & kritik«.

Die Vereine haben sich 1978 zur »Föderation der demokratisch-idealistischen türkischen Vereine in Europa/Türk-Föderation« zusammengeschlossen. Ihr Interesse gilt vor allem Jugendlichen, die sie in ihre Reihen aufnehmen wollen. Nicht ohne Erfolg: Nach Aussagen der AGIF-Mitarbeiter sympathisiert ein großer Teil der türkischen Jugendlichen <Bild: Abbildung> mit den Grauen Wölfen, die für sie die Speerspitze der nationalistischen Bewegung darstellen. Ein wesentlicher Grund dafür sei die Berichterstattung in den türkischen Medien, erklärt AGIF-Mitglied Sakina Polat. Dort würde einfach Schwarz-weiß-Malerei betrieben: Den »terroristischen« Kurden und als »Volksverrätern« stigmatisierten Menschenrechtlern sowie linken Politikern steht die »rettende Hand« des türkischen Nationalismus gegenüber. Vor allem die Zeitung Turkiye, aber auch andere Boulevardblätter findet man nicht nur in den Kiosken, sondern auch in den Cafés und Treffpunkten der MHP, wo willfährige Jugendliche über ältere Parteikader auch schon mal einen Job oder eine Wohnung vermittelt bekommen.

Gemeinsames Erkennungszeichen der Grauen Wölfe ist der »Wolfsgruß«, bei dem kleiner und Zeigefinger ausgestreckt sind, während der Daumen mit dem Ring- und Mittelfinger zusammengeführt wird. Diesen Gruß zeigen Fußballfans nach gewonnen Spielen genauso wie Angehörige türkischer Spezialeinheiten, die sich triumphierend auf Fotos mit getöteten Kämpfern der PKK abbilden lassen.

In Köln hat die Türk-Föderation ihren Sitz in einem alten Kino im rechtsrheinischen Stadtteil Mülheim. Statt Kinofilmen aus Hollywood sind dort nun die türkische Nationalfahne und Bilder von Alpaslan Türkes an der Wand zu sehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Migrantenvereinen verfügt das »Türkische Kulturheim Köln« über einen denkbar guten Draht in den Rat der Millionenstadt: Das Vorstandsmitglied Ibrahim Usta ist gleichzeitig Vorsitzender des Ausländerbeirats der Stadt Köln. Das ist keine Besonderheit, in mehreren deutschen Städten sind Ausländerbeiräte vornehmlich mit türkischen Rechtsradikalen besetzt.

»Situationsbedingte Tat«

Obwohl Experten wie Fikret Aslan und Kemal Bozay in ihrem Buch »Graue Wölfe heulen wieder« MHP und Graue Wölfe auch in Deutschland für zahlreiche Morde und andere Verbrechen verantwortlich machen, tauchen weder die Organisationen noch die Türk-Föderation und ihre Vereine in den Verfassungsschutzberichten auf. Nach Angaben der Verfassungsschützer in Bund und Land hätten sich die geschätzten 7 000 Mitglieder der Grauen Wölfe derart unauffällig verhalten, daß man sie aus den Berichten herausgenommen habe. Auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (PDS) antwortete 1995 das Bundesinnenministerium, die Türk- Föderation bezwecke »in Form von Folklore- und Saalveranstaltungen [...] die Interessen der türkischen Republik im Rahmen der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zur Geltung zu bringen«.

Der Haltung der Verfassungsschutzbehörden entspricht auch die Ermittlungstätigkeit der Kölner Staatsanwaltschaft und Polizei im Fall Erol Ispir. Auf die Frage von junge Welt, wie denn der aktuelle Stand der Ermittlungen sei, winkte Ende August Polizeisprecher Wolfgang Beus ab. Bei solch »delikaten Geschichten« sei die Staatsanwaltschaft zuständig. Doch auch Bernhard Jansen, der zuständige Oberstaatsanwalt, wollte gegenüber der StadtRevue keine Auskunft geben, ob Ermittlungstätigkeiten in Richtung organisierter türkisch- nationalistischer Kreise aufgenommen worden sind. »Für einen politischen Hintergrund gibt es keine konkreten Anhaltspunkte«, so seine Antwort.

Dabei macht selbst der 21jährige Arigan K., einer der mutmaßlichen Täter, der sich bereits am 14. Juli in Begleitung von Angehörigen am Flughafen Köln/Bonn gestellt hatte, gegenüber Ermittlungsbeamten keinen Hehl aus seiner nationalistischen Gesinnung, berichtete der Kölner Stadtanzeiger. Die Aussage von K., Graue Wölfe bzw. MHP seien wegen ihrer hohen Mitgliedsbeiträge »Abzocker«, werten die Ermittlungsbehörden offenbar als ausreichenden Hinweis auf eine mangelhafte Anbindung des Täters an die faschistischen Strukturen. K., der den 22jährigen Mittäter Selim A. bei den Verhören schwer belastete, behauptet, daß »es sich um eine situationsbedingt ausgelöste Tat gehandelt habe, die keinen politischen Hintergrund hat«, so ein Sprecher der Polizei.

Ein »persönliches« Tatmotiv kommt auch für Polizeisprecher Klaus Liedert durchaus in Frage und ist Anlaß für rege Ermittlungstätigkeiten. Die reichen bei der »persönlichen« Motivlage bis an die Grenzen Nordrhein- Westfalens: AGIF berichtet, daß sogar in ihrem Bielefelder Vereinslokal Mitarbeiter befragt wurden, ob es »interne Streitigkeiten« geben würde. Für die AGIF- Vereinsmitglieder gibt es noch mehr Ungereimtheiten und Widersprüche. »Warum sind wir bei der Mahnwache vor dem Tatort permanent von Grauen Wölfen mit Pistolen bedroht worden?« Der Polizeiversion erteilen sie eine klare Absage. »Wir als türkische Immigranten und Menschen, die hier in Kalk und Mülheim wohnen, kennen die rechtsextreme Szene. Für uns ist klar, woher die Mörder kommen.« Arigan K. ist mittlerweile aus der Untersuchungshaft entlassen worden. »Wir gehen davon aus, daß er sich dem Verfahren nicht entziehen wird«, so W. Weber, Sprecher der Staatsanwaltschaft in Köln.