Frankfurter Rundschau 1.10.1999

Ist der türkische Premier krank?

Im Hintergrund: Sorgen wegen Ecevit

Von Gerd Höhler (Athen)

Jene Reise, zu der Bülent Ecevit am vergangenen Montag in die USA aufbrach, sei vielleicht die wichtigste in der fast 40-jährigen politischen Karriere des fünffachen Ministerpräsidenten, schrieben türkischen Kommentatoren. Aber ausgerechnet diesen Trip begleiten die Istanbuler Gazetten nun mit Spekulationen über die physische und psychische Ausdauer des 74-jährigen Polit-Veteranen.

Ecevit selbst lieferte den Anlass. Bevor er am Montag in Ankara den Regierungsjet nach Washington bestieg, fingerte er einen Zettel aus der Anzugtasche - eines jener Blätter, auf die der frühere Journalist und Literat eigenhändig wichtige Erklärungen tippt, mittels einer altersschwachen Reiseschreibmaschine. Diese hatte mit dem Jahrestag der "Siegesfeiern" zu tun, einem wichtigen Datum im türkischen Kalender. Alljährlich gedenkt die Nation des Sieges über die Griechen in Kleinasien. Weil er zum Jahrestag außer Landes weilen werde, wolle er schon jetzt "unseren Streitkräften und dem verehrten türkischen Volk" seine Glückwünsche aussprechen, las Ecevit vor Kameras und Mikrofonen von seinem Zettel ab. Eisiges Schweigen unter den zahlreichen Offiziellen, die sich im VIP-Raum des Flughafens versammelt hatten: Der Jahrestag lag fast einen Monat zurück.

"Oh je!", seufzte anderntags das Massenblatt Hürriyet. Um einen Wochentag könne man sich schon mal irren. Aber um einen ganzen Monat? Ein bloßer Versprecher war es wohl in der Tat nicht, schließlich hatte Ecevit an den Feierlichkeiten zum 30. August zuvor ausgiebig teilgenommen. "Ecevit ist nicht mehr der alte", grämte sich Hürriyet und konstatierte, was alle Türken längst wissen: "In der Öffentlichkeit wird geflüstert", man behaupte "dies und jenes".

Wie es um den Premier bestellt sei, wisse man natürlich nicht, schließlich sei die Türkei nun mal "kein transparentes Land", aber "irgend etwas ist nicht in Ordnung", ahnt die Zeitung.

Spekulationen über den Gesundheitszustand des greisen Ministerpräsidenten gibt es nicht erst jetzt. Schon während des Frühjahrs, im Wahlkampf, machten Gerüchte von einem angeblichen schweren Krebsleiden des Politikers die Runde, gestreut offenbar von politischen Gegnern. "Was ist los mit Ecevit - ist er vielleicht krank?", fragt jetzt das türkische Massenblatt Star. Ein "Staatsproblem" sieht gar die linksliberale Cumhuriyet, früher das Sprachrohr der in den 70er Jahren von Ecevit geführten Demokratischen Volkspartei (CHP). Der Premier, so wunderte sich die Zeitung, spreche immer noch von der "Sowjetunion", wenn er von der Russischen Föderation rede; mitunter verabschiede Ecevit nach Fernsehinterviews mit herzlichen Grüßen nicht nur die Journalisten, sondern auch seine eigenen Leibwächter, als seien sie Gäste.

Ecevit ist seit jeher ein Sonderling. Der in die Politik verschlagene Literat macht nicht gern viel von sich her. Statt des gepanzerten Dienst-Mercedes' bedient sich der Regierungschef eines Kleinwagens aus türkischer Fertigung. Kein Politiker seines Landes ist bescheidener als er. Er gilt als unbestechlich - ein Urteil, das türkischen Politikern fast nie zuteil wird. Doch am Gesundheitszustand des ausgemergelt wirkenden Greises gibt es wachsende Zweifel. Was, wenn Ecevit im Gespräch mit US-Präsident Bill Clinton ganze Monate verwechselt hätte, fragt besorgt die Hürriyet und warnt: "Die Sache ist ernst!"