Süddeutsche Zeitung 31.8.1999

Die Angst vor der Seuche

Naturkatastrophen wie das Beben in der Türkei schüren die Furcht vor Epidemien - doch deren Wahrscheinlichkeit ist gering

Von Martin Lindner

Die Leichen stinken, und das Radio sagt, es gibt Epidemien", erzählt die zehnjährige Meklike Hamursci. Ihre Familie hat sich aus dem zerstörten Haus geflüchtet, kampiert nun in einem Zelt im Vorgarten, ohne Strom und fließendes Wasser wie viele Tausende. Angst hat Meklike nicht nur vor einem neuen Beben. Angst hat sie auch, krank zu werden. In Adapazari, der türkischen Provinz, in der Meklike lebt, haben Meldungen von Typhus die Besorgnis über die Verbreitung von Infektionskrankheiten geschürt. Schlechte hygienische Verhältnisse, tagelanger Regen, Temperaturen bis 40 Grad Celsius, Menschen-Kadaver in den Straßen: Nach dem Beben des Erdreichs scheint der Boden für gefährliche Seuchen bereitet zu sein. Von Ruhr, Cholera und Hirnhautentzündungen ist die Rede. Viele Menschen fürchten, sie könnten nun durch Mikroben verlieren, was ihnen die Katastrophe bisher gelassen hat - ihr Leben.

Doch die Vorstellung, Erdbeben-Überlebende würden häufig zu Opfern von Seuchen, gehört ins Reich der Mythen. Das zumindest teilte die Weltgesundheitsorganisation WHO zum Jahrhundertbeben in der Türkei mit. Dass auf Naturkatastrophen die Epidemien folgten, dass Leichen die Quelle von Masseninfektionen seien, werde zwar immer wieder behauptet. "Die Realität ist jedoch bei weitem eine andere", meint Michel Thieren, Katastrophen-Experte der WHO in Genf. Gewöhnliche Hygiene-Maßnahmen und eine verstärkte Krankheitskontrolle genügten, um zu vermeiden, dass sich Infektions-Krankheiten ausbreiten.

Erregte Anrufer

"Wir neigen zur Auffassung der WHO", kommentiert Alfred Nassauer vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. Zwar hätten Bundesbürger zu Dutzenden beim RKI erregt angerufen, da sie fürchteten, Menschen aus der Türkei könnten auch allerlei Seuchen einschleppen. Konkrete Berichte über Krankheitsausbrüche lägen aber nicht vor. Natürlich bleibt auch Nassauer vorsichtig. Wenn die Versorgung mit sauberem Trinkwasser zusammenbreche, "dann sind Durchfallerkrankungen eine große Gefahr".

Der Schaden an den Wasserrohren gibt vielen Experten den größten Anlass zur Sorge. "Durch die Erdverschiebung bersten die vorhandenen Leitungen. Sowohl das Zuwasser- wie Abwassersystem ist an vielen Stellen unterbrochen", beschreibt Peter Schäfer, Einsatzleiter bei der Rettungsaktion des Technischen Hilfswerks in Izmit. In den Straßen der Stadt seien wilde Müllhalden entstanden. Und durch Regengüsse hätten sich viele Flächen, auf denen Menschen kampieren, in Moraste verwandelt.

Dennoch "sind Epidemien in der Folge von Erdbeben unwahrscheinlich", schätzt Anselm Smolka, Erdbeben-Experte der Münchener Rückversicherungsgesellschaft. Nach der bis in die 50er-Jahre zurückreichenden Versicherungsstatistik seien keine Seuchen durch Erdbeben ausgelöst worden. Und auch bei anderen großen Beben dieses Jahrhunderts, so in San Francisco 1906 und in Tokio 1923, spielten Epidemien offenbar ebenso wenig eine Rolle wie etwa beim Desaster in Lissabon im Jahr 1755.

Tatsächlich scheinen Seuchen nicht nur nach Erdbeben, sondern nach Naturkatastrophen insgesamt selten zu sein. Allerdings stiegen nach dem Hurrikan Mitch, der letztes Jahr Mittelamerika verwüstete, vor allem in Guatemala die Zahlen von Cholera-Infektionen. Auch traten schwere Fiebererkrankungen durch sogenannte Leptospiren auf. Ein direkter Zusammenhang mit dem Hurrikan ließ sich allerdings nie definitiv nachweisen.

Doch vor allem auf Grund der Erfahrungen aus Flüchtlingscamps, sitze den Hilfsorganisationen "die Angst im Nacken", so Peter Firmenich von Ärzte ohne Grenzen. Zwar konnten während des Kosovo-Kriegs große Lagerseuchen vermieden werden. Aber 1994 starben in Zaire schätzungsweise 50 000 ruandische Flüchtlinge an Cholera und Bakterien-Ruhr - was nach Einschätzung der WHO durch ausreichende Information über den Gesundheitszustand der Menschen und durch bessere Planung hätte vermieden werden können.

Sauberes Wasser und Latrinen gelten unter Experten als Mindestvoraussetzungen einer Notversorgung. Durchfall-Erreger - Salmonellen, Cholera-Bakterien, Viren, Amöben - breiten sich mit den Fäkalien aus und werden mit verschmutztem Trinkwasser oder kontaminierten Nahrungsmitteln von anderen Menschen wieder aufgenommen. Die Trennung von Abwasser und Trinkwasser ist ein Schlüssel zur Krankheitsverhütung. "Auch Fliegen können gefährlich werden", weiß Firmenich. Denn sie verschleppen mit Mikroben beladene Fäkalienpartikel. Latrinen müssten deshalb durch Gitter fliegensicher gemacht oder beispielsweise mit Chlorkalk regelmäßig desinfiziert werden.

"Oft sind in größeren Lagern auch Massen-Impfungen notwendig", erläutert Peter Firmenich. Denn in Verbindung mit Unterernährung könnten selbst Kinderkrankheiten wie Masern einen tödlichen Verlauf nehmen. "In der Türkei werden Impfungen jedoch kaum nötig sein." Denn bei dem Erdbeben sei vor allem die Stadtbevölkerung betroffen gewesen - Menschen mit guter Gesundheit und hohem Impfschutz.

Was einerseits zu den erschreckend hohen Opferzahlen geführt habe, erleichtere andererseits die medizinische Hilfe. Anders als in Flüchtlingslagern am Rande von Kriegsschauplätzen "sind die Menschen nicht durch lange Märsche geschwächt", so Firmenich. "Die Infrastruktur ist in den urbanen Regionen gut, und Hilfsgüter können leichter ans Ziel kommen."

Prinzipiell sei eine Vielzahl von Szenarien nach Katastrophen denkbar, meint Jürgen Knobloch vom Tropeninstitut der Universität Tübingen. Neben Durchfall- oder Erkältungs-Krankheiten könnten Kinderlähmungen oder schwere Infekte wie Typhus zum Problem werden. Auch das durch Läuse übertragene Rückfallfieber trete typischerweise unter schlechten hygienischen Bedingungen auf.

Leichen sind kaum eine Gefahr

"Naturkatastrophen rufen jedoch keine neuen Epidemien hervor", betont Michel Thieren von der WHO. Nur jene Erreger, die bereits vorhanden sind, könnten sich nach den Desastern auch ausbreiten. Bekannt sei zwar, ergänzt Alfred Nassauer vom RKI, "dass einzelne Fälle von Typhus in der Türkei immer wieder auftreten" - die Typhus-Gefahr sei daher auch nicht völlig auszuschließen. Eine generelle Impfung für Türkei-Reisende hält das RKI aber dennoch nicht für begründet. "Geringer noch scheint die Wahrscheinlichkeit einer Cholera-Epidemie", meint Nassauer. Denn der letzte Cholera-Ausbruch liege acht Jahre zurück.

Auch Leichen scheinen bei der Epidemie-Entstehung keine große Rolle zu spielen. "Wenn die Kadaver nicht bereits mit Seuchen-Keimen infiziert sind, ist auch die Ansteckungsgefahr nicht gegeben", erläutert Jürgen Knobloch. Denn die gewöhnlichen Verwesungsbakterien lösten allein keine Krankheiten aus.

"Warum so viele Menschen einen Mundschutz tragen, verstehen wir aus medizinischer Sicht eigentlich nicht", sagt Richard Munz, der im Feldhospital des Deutschen Roten Kreuzes in Gölcük die Erdbeben-Opfer versorgt. Allenfalls die staubige Luft und der Verwesungsgeruch seien damit leichter zu ertragen. "Wir tragen jedoch keinen Atemschutz."

Gering, glaubt auch Munz, sei derzeit die Epidemie-Wahrscheinlichkeit. "Die medizinische und Trinkwasser-Versorgung durch die türkischen Helfer ist gut." Während noch Tausende von Toten unter den Trümmern begraben lägen, hätten Ärzte neben Krankheiten wie Asthma oder Herzschwäche sowie Verletzungen nun vor allem mit den ganz alltäglichen Notfällen zu tun, sagt Richard Munz. "Zu den häufigen Problemen für uns gehören jetzt Blinddarmentzündungen, Leistenbrüche und Geburten."