Süddeutsche Zeitung 31.8.1999

Grenzschützer haben an Bord nichts zu sagen

Antwort des Bundesinnenministeriums sorgt bei Piloten für Aufregung

Auch bei Abschiebungen hat nur der Flugkapitän die Kommandogewalt - Passagiere und Besatzung müssen notfalls gegen gewalttätige Beamte vorgehen

Von Friedrich C. Burschel Offenbar haben Beamte des Bundesgrenzschutzes bei gewaltsamen Rückführungen von Asylsuchenden in ihre Heimatländer an Bord der Flugzeuge keinerlei Machtbefugnis. Die Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage der PDS-Fraktion im Bundestag sorgt jedenfalls bei Flugunternehmen und unter den Piloten für Verunsicherung.

In dem Schreiben des BGS-Inspekteurs im Bundesinnenministerium, Walter Sperner, heißt es wörtlich: "Die polizeilichen Befugnisse dieser Beamten enden mit dem Schließen der Außentüren des Flugzeuges. Die Polizeivollzugsbeamten sind daher ab diesem Zeitpunkt im Hinblick auf ihre Rechte und Befugnisse an Bord den übrigen Passagieren gleichgestellt und haben keinen Sonderstatus." Dies gelte, so heißt es weiter, für den inländischen ebenso wie für den ausländischen Luftraum. Ein Tätigwerden der Polizisten, etwa die Anwendung unmittelbaren Zwangs, bedürfe der Ermächtigung durch den Flugkapitän, der an Bord nach dem Schließen der Außentüren die alleinige und unumschränkte Kommandogewalt innehabe.

Die Einschätzung, dass somit jedes gewaltsame Handeln der zu Privatpersonen gewordenen Polizeibeamten nicht nur rechtswidrig ist, sondern auch in dieVerantwortung des "Luftfahrzeugführers" fällt, sorgt bei der Lufthansa AG und der Pilotenvereinigung "Cockpit" für Unruhe. Brisanz bekommt die Frage vor allem dann, wenn es zu einer Verletzung des Abzuschiebenden durch BGS-Beamte oder gar zu dessen Tod kommt, wie erst Ende Mai, als der Sudanese Aamir Ageeb beim Flug von Frankfurt nach München von Grenzschützern erstickt wurde.

Notwehr gegen Unbefugte

Denn wenn die Beamten an Bord keine hoheitlichen Rechte mehr genießen und nur auf ausdrückliche Anordnung des Flugkapitäns und auf dessen Verantwortung handeln dürfen, wären Zwangsmaßnahmen wie Fesselungen und körperliche Gewalt gegen tatsächlich oder vermeintlich Widerstand leistende Personen strafbare Handlungen von Passagieren an einem Mitreisenden.

Wenn solche Maßnahmen angewandt werden, zumal wenn sie lebensgefährliche Formen annehmen, wären die anderen Passagiere, die Crew und vor allem der Flugkapitän verpflichtet, einzuschreiten. Denn auch wenn der Abzuschiebende sich heftig wehrt, ist dies kein strafbares Verhalten, sondern eine Notwehr gegen rechtswidrige Handlungen Unbefugter, nämlich der Beamten, die an Bord keine Vollzugsrechte mehr haben. Die Äußerungen Sperners stellen so generell die Rechtmäßigkeit gewaltsamer Abschiebungen in Frage.

Der Pressesprecher der Lufthansa AG, Michael Lamberty, weist dagegen eine Verantwortlichkeit des Flugkapitäns oder der Fluggesellschaft entschieden zurück. Seiner Ansicht nach bleibt zwischen der Beförderungspflicht der Flugunternehmer und der polizeilichen Bordgewalt des Flugzeugführers kein Entscheidungsspielraum. Nur wenn der Pilot begründete Anzeichen für eine Gefährdung der Sicherheit an Bord sieht, kann er von seinem Recht Gebrauch machen, den Flug zu verweigern oder abzubrechen. "Eine pauschale Weigerung ist hierfür nicht ausreichend", so Lamberty. Bei der Lufthansa geht man davon aus, dass - anders als aus Regierungssicht - Polizeibeamte sehr wohl hoheitliche Rechte haben und rechtens handeln, wenn sie ihrer Aufgabe auch mit unmittelbarem Zwang nachkommen. Der Flugkapitän müsse sich "im Falle einer von den zuständigen Behörden verfügten Begleitung so genannter Deportees durch BGS-Beamte auf deren ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung verlassen", erklärt Lamberty weiter.

Dieser Ansicht, dass der verantwortliche Kapitän davon auszugehen habe, "dass der öffentlich rechtliche Akt der Abschiebung rechtmäßig sei", schließen sich auch die deutschen Piloten an. Der Leiter der Arbeitsgruppe Recht bei dem 5000 Mitglieder starken Interessenverband der Flugkapitäne "Cockpit", Klaus Meyer, meint, dass die Piloten zu einer "rechtlichen Prüfung" des Abschiebebeschlusses auch gar nicht befugt seien. Für eine Verweigerung der Beförderung oder den Abbruch eines Fluges seien dem Piloten sehr enge Grenzen gesteckt, sagt er. Er dürfe den Abflug auch dann nicht verweigern, wenn ein konkretes Sicherheitsrisiko an Bord, zum Beispiel durch einen sich wehrenden Abzuschiebenden, durch Fesselung beseitigt werden könne. Eine Weigerung aus Gewissensgründen könnte einem Piloten - durchaus zu Recht - eine Abmahnung des Arbeitgebers eintragen, weiß Meyer aus der Erfahrung eines Kollegen zu berichten. "So bedauerlich das im Einzelfall sein mag, es ist dem Kapitän verwehrt, die Beförderung aus emotionalen Gründen abzulehnen", meint Klaus Meyer, der selbst Flugkapitän und Volljurist ist.

Meyer verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Bestimmungen des so genannten Tokioter Abkommens über strafbare Handlungen an Bord von Flugzeugen von 1944, in dem die Befugnisse des Flugkapitäns und von ihm ermächtigter Personen geregelt werden. Diesem Abkommen gemäß können Besatzungsmitglieder und Fluggäste in Ausnahmefällen auch dann "geeignete Maßnahmen" ergreifen, um strafbare Handlungen zu unterbinden, wenn der Flugkapitän sie nicht ermächtigt hat. Für die in diesem Kontext handelnden Personen sieht das Abkommen eine weitgehende Straflosigkeit vor, auch wenn eine Person durch dieses Handeln zu Schaden kommt oder gar stirbt.

Mit Gewalt befreit

Nach Ansicht der Münchener Ausländerrechtsexpertin Gisela Seidler gilt diese "Immunität" dann aber auch für Fluggäste und Besatzungsmitglieder, die gegen Beamte vorgehen, die das Leben eines Abzuschiebenden durch ihre Zwangsmaßnahmen gefährden. Sie könnte sich mit dieser Einschätzung auf den Fall der Passagiere eines Swiss-Air-Fluges berufen, die im Mai einen Abzuschiebenden mit Gewalt aus den Händen der Polizeibeamten befreiten. "Gibt der Kapitän keine Anweisungen, so sind die Mitreisenden berechtigt und in Notfällen sogar verpflichtet einzugreifen", erklärt sie. Niemand habe zu befürchten, wegen des Widerstandes gegen Staatsbeamte belangt zu werden, da diese im Flieger keine staatlichen Sonderrechte hätten.

In zivilrechtlicher Hinsicht sieht die Juristin hier weitreichende Konsequenzen auf die Beteiligten zukommen. Wo es keine ausdrückliche Weisung des Kapitäns gibt, können nach ihrer Meinung BGS-Beamte persönlich für ihr Tun oder Unterlassen haftbar gemacht werden. Greift ein Kapitän nicht ein, wenn die zu normalen Fluggästen gewandelten BGS-Beamten einen anderen Passagier, in diesem Fall den Abzuschiebenden, misshandeln oder töten, verletze er seine Schutzpflichten gegenüber dem Betroffenen und sei dafür ebenfalls haftbar zu machen. Für ihn wie für passiv bleibende Mitreisende gelte, so Frau Seidler: "Wegschauen kann unterlassene Hilfeleistung sein."

Klaus Meyer indes glaubt nicht, dass ein Passagier an Bord sich gegen die Handlungen von Staatsbeamten wenden würde. Auf den Einwand, dass diese Beamten nach Meinung des Innenministeriums keinerlei Befugnisse an Bord haben, antwortet Meyer knapp: "Das weiß doch niemand!"