Süddeutsche Zeitung 31.8.1999

Nachbeben in Deutschland

Türkische Gemeinde streitet über Kritik an Hilfe der Bundesregierung

Der Politikwissenschaftler Hakki Keskin und der Reiseunternehmer Vural Öger hatten an diesem Montag ein längeres Gespräch. Dabei haben sie sich gegenseitig versprochen: "Wir bleiben Freunde." Wie beide der Süddeutschen Zeitung versicherten, wollen es weder der Vorsitzende Keskin noch sein bisheriger Stellvertreter Öger zu einem Bruch in der "Türkischen Gemeinde" in Deutschland kommen lassen, auch wenn der eine (Keskin) die offizielle deutsche Hilfe für die türkischen Erdbebenopfer "unwürdig" nannte, und der andere (Öger) dieses Urteil für "kontraproduktiv" hielt und deshalb den Vorstand der Türkischen Gemeinde verlassen hat.

Weit über diesen Anlass hinaus macht dieser Streit unter den beiden "Deutschtürken" deutlich, dass die Existenz zwischen zwei Welten selbst bei gebildeten Männern Mitte fünfzig mit durchaus verwandten Biografien zu ganz unterschiedlichen Haltungen führen kann. Wie schwierig ist dann erst eine gemeinsame Politik für die 2,3 Millionen Türken in Deutschland. Der Türkischen Gemeinde jedenfalls ist es bisher noch nicht gelungen, ein allgemein anerkanntes Sprachrohr für die in Deutschland lebenden Türken zu werden. Der Dachverband, dessen Geschäftsführung in Hamburg sitzt, repräsentiert nach eigenen Angaben nur 200 türkische Vereine von mehr als 5000 in Deutschland.

"Wir sind sehr verzettelt", klagt Vural Öger über dieses Erscheinungsbild. Er findet, in dieser Situation reiche es keinesfalls aus, "nur Pressemitteilungen" zu verfassen. Hakki Keskin als Vorsitzender der Türkischen Gemeinde müsse "wirksamer agieren" und zum Beispiel auch konservative und religiöse Standpunkte in die Politik der Türkischen Gemeinde einbeziehen. Auch um wichtige Stilfragen geht es. Ögers Temperament verlangt eher nach Ausgleich denn nach Streit. Darum will er sich künftig auch mehr um die von ihm gegründete "Deutsch-Türkische Stiftung" kümmern.

Hakki Keskin dagegen hat gerade einen Artikel für die türkische Zeitung Hürriyet fertig gestellt. Darin beschreibt er den aktuellen Streit unter den Türken in Deutschland aus seiner Sicht. Keskin fühlt sich missverstanden. "Es ist mir nie um die Höhe der Erdbeben-Hilfe gegangen, sondern hauptsächlich um die fehlende öffentliche Anteilnahme von Repräsentanten wie Bundeskanzler Schröder oder Bundespräsident Rau am Schicksal der Opfer." In einem weiteren Artikel für Milliyet will er demnächst aber auch das Versagen der türkischen Administration angesichts der Katastrophe in dem Erdbebengebiet kritisieren.

Mit der heftigen Attacke des Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir, der Keskin einen "Berufstürken" genannt hat, der nicht mehr auf der Höhe der Zeit sei, kann der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde nichts anfangen. "Ich bin ein Deutscher, wissen sie", gibt Keskin zurück. "Deutschland ist meine Heimat. Und ich habe hier das Recht, meine Meinung zu sagen." Vom Vorstand der Türkischen Gemeinde fühlt Keskin sich weiterhin unterstützt. Über die eigene Zukunft in diesem Ehrenamt will er noch nicht nachdenken. Die nächste Mitgliederversammlung, die einen neuen Vorstand und einen neuen Vorsitzenden wählt, findet erst in fünf Monaten statt. "Wir werden sehen", meint Keskin. Er persönlich wäre "sehr froh, wenn jemand käme, der sagt, ich übernehme das". Cornelia Bolesch