Die Welt, 31.8.1999

Eine Journalistin bricht ein türkisches Tabu

Nadire Mater lässt in "Mehmets Buch" erstmals junge Veteranen über den Krieg gegen die Kurden reden ­ Ein verbotener Bestseller

"In meinen Träumen sehe ich mich als Soldat. Alle anderen haben ihren Dienst beendet, aber mein Wehrdienst geht weiter. Es ist so realistisch, dass ich mir wünsche, es sei ein Traum."

Ein Veteran der türkischen Armee, Jahrgang 1972, Wehrdienst 1992 ­ 1994

Von Joachim Widmann

Berlin ­ "Es darf keine demoralisierende Berichterstattung geben", meint der türkische Premier Bülent Ecevit. Das bekommen dieser Tage Journalisten zu spüren, die die wenig rühmliche Rolle der türkischen Sicherheitskräfte in der Erdbebenhilfe kritisiert hatten: Ein privater Fernsehsender wurde kurzerhand geschlossen. Eine übliche und noch relativ milde Maßnahme ­ die Türkei ist nach übereinstimmenden Angaben mehrerer Menschenrechtsorganisationen das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten. Zur Zeit sind es nahezu 200.

Die Istanbuler Journalistin Nadire Mater rechnet damit, dass auch gegen sie nach dem Ende der Gerichtsferien im September ein Verfahren eröffnet wird. "Das ist die übliche Prozedur, wenn ein Buch verboten wird", sagt sie. "Mehmets Buch", Maters Protokoll der Aussagen aus Interviews mit 42 Veteranen der türkischen Armee im Kurdenkonflikt, war im Juni verboten worden. Begründung: Es enthalte Formulierungen, "die die türkischen Streitkräfte beleidigen".

Ein schwerwiegender Vorwurf, zumal vor dem Hintergrund des Prozesses gegen den PKK-Chef Abdullah Öcalan, der ebenfalls im September vor dem Obersten Berufungsgericht fortgesetzt wird. In der ersten Runde des Prozesses, der mit einem Todesurteil gegen Öcalan endete, hatte die Justiz tausende Tote dem Konto der PKK zugerechnet, von der Rolle der türkischen Armee in dem Konflikt war nicht die Rede. Journalisten, die in den südosttürkischen Kampfgebieten recherchieren wollen, sind immer wieder Repressionen ausgesetzt. Die Armee, seit acht Jahrzehnten Rückgrat des Staates, kontrolliert den Zugang.

Nadire Mater versuchte nicht, in die Konfliktregionen zu gelangen, sondern sprach mit 42 von geschätzten 2,5 Millionen Wehrpflichtigen, die seit 1984, als die PKK ihren bewaffneten Kampf begann, ihren Militärdienst in der Südosttürkei ableisteten. Offiziell ist "Mehmet", so der gängige Spitzname für türkische Soldaten, ein Held, der sich im Kampf der Nation gegen separatistische Terroristen bewährt und als Mann veredelt. "Mehmets Buch" dagegen ist ein Zeugnis von der inneren Verrohung der Armee, von einem sinnlosen Bruderkrieg.

"Schmutz, Disziplin, Fluchen und Schläge. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich geschlagen wurde. Ich wog 70 Kilo, als ich im Südosten stationiert wurde, und 49 am Tag meiner Entlassung . . . In den ersten zwei Monaten hatte ich nicht einmal Gelegenheit, ein Bad zu nehmen."

Ein Veteran der türkischen Armee, Kurde, Jahrgang 1973, Wehrdienst 1993­1995

Die Wehrpflichtigen werden in ihrer Grundausbildung zur Grausamkeit erzogen. Man erzählt ihnen von Massakern der PKK an unbewaffneten Soldaten. Dass Gefangenen die Ohren abgeschnitten werden. Dass sie gefoltert werden. Das teuflische Feindbild soll sie selbst verhärten. Doch die erste Erfahrung ist durchweg der gnadenlose Drill, der Zwang, die eigene Identität aufzugeben. Kahlgeschoren, unter üblen hygienischen Bedingungen, werden die jungen Männer zusammengepfercht, angewiesen auf Lebensmittelrationen, die vom Nachschub übrig bleiben, mit dem Offiziere privaten Handel treiben.

"Da draußen, das ist das Ende der Humanität. Du hast keine Beziehung zu irgendetwas Menschlichem, du bist ein Tier. Täglich siehst du Tote, ermordet, verbrannt, gefoltert . . . Bevor ich zur Armee ging, hatte ich nie einen Toten gesehen. Jetzt könnte man vor meinen Augen einen Mann mit einem Rasiermesser schneiden. Ich bin zu Stein geworden."

Veteran der türkischen Armee, Jahrgang 1974, kann sich nicht an die exakten Daten seines Wehrdienstes erinnern

Die Veteranen schildern in "Mehmets Buch" einen aufreibenden Stellungskrieg. Die Soldaten schweben immer in Gefahr, da die PKK nach Guerillataktik vorgeht, mit Scharfschützen, nächtlichen Überfällen auf Armeestellungen. Lähmende Monate lang stehen die Rekruten Wache, und nichts passiert: "Eines Nachts zündet sich einer eine Zigarette an. Dann ist er tot, getroffen in den Mund." "Mehmets Buch" ist auch Zeugnis vom Abscheu der Soldaten vor den moralischen Zumutungen dieses Krieges. Entrüstung macht sich Luft in der Beschreibung eines Angriffs auf ein Dorf: Frauen und Kinder werden zusammengetrieben, während Soldaten ihre Häuser anzünden. Sie wollen nicht sagen, wo sich die Männer versteckt halten: "Was sonst erwarten die Offiziere?" Gefangene mutmaßliche PKK-Leute werden sofort erschossen: "Warum haben sie nicht das Recht auf ein Gerichtsverfahren? Wer gibt uns das Recht, sie zu exekutieren?" Getötete Rebellen werden ihrer Kleider beraubt, aus Furcht vor Sprengladungen, die sie am Körper tragen können. Ein Sakrileg, das auch an Frauen begangen wird ­ ein Schock für die jungen Moslems in türkischer Uniform.

"Ich legte mich hin, um etwas Ruhe zu bekommen. Da sah ich ihn: Er steckte ein Ohr in seinen Brief. Die, die getöteten Kurden die Ohren abschneiden, schicken sie an ihre Familien. Wenn ich etwas dagegen gesagt hätte, hätte er mich angeschwärzt wegen ,Unterstützung der Separatisten'. Dann wäre ich zum Verhör zur ,Antiterror-Einheit' geschickt worden."

Ein Veteran der türkischen Armee, Kurde, Jahrgang 1973, Wehrdienst 1993­1995

Die Veteranen können ihre Erlebnisse nicht mit ihren Freunden oder Familien teilen. Auch sie sind Opfer dieses Krieges. "Niemand, der nicht dabei war, kann dir glauben", sagt einer. Sie tragen ihre Traumata nach Hause, sind nach dem Wehrdienst oft wie Fremde, die den Anschluss an das Leben nicht mehr finden. Aggressiv: "Ich will manchmal um mich schlagen. Einfach jemanden erschießen." Ängstlich: "Bei jedem Knall werfe ich mich zu Boden." Ihres Lebens beraubt: "Ich hatte nichts getan. Nicht die Staatsbank überfallen oder so was. Ich hatte nicht gewollt, was mir passiert ist. Jetzt hat dieser Typ keine Beine mehr: Da darf ich mein Mädchen nicht heiraten", sagt ein Kriegsinvalide, der von den Eltern seiner Braut den Laufpass erhielt.

Die Diskrepanz zwischen der "Helden und Märtyrer"-Propaganda und dem Leben derer, die die so sehr glorifizierte Uniform einmal getragen haben, ist groß, so groß wie die zwischen der Repräsentation des Staates und der Realität seines Krieges gegen die Kurden. Maters Buch bricht ein Tabu, und es verkaufte sich gut: Vier Auflagen gab es, insgesamt 14 000 Exemplare, in den beiden Monaten, in denen es verkauft werden durfte ­ ein Beleg dafür, dass unterhalb der martialischen die homogene Volksgemeinschaft beschwörende Führung einer Zivilgesellschaft wächst, die nach Offenheit und Reformen hungert.

Den Appell von 52 Intellektuellen, den Bann gegen "Mehmets Buch" aufzuheben, quittierte das Justizministerium mit dem Hinweis auf die "Unabhängigkeit der Justiz". Aus der Verbotsverfügung geht indessen hervor, dass der Justizbeamte, der den Bann verhängte, wohl doch auf höhere Weisung handelte: Der Titel des Buches, die Namen der Autorin und des Verlages waren falsch zitiert ­ offenbar hatte der Zensor das Buch nicht gelesen.

Ungeachtet all dessen sind Übersetzungen in Vorbereitung. Nadire Mater zufolge zeigen sich zwei deutsche Verlage und ein griechischer an einer Veröffentlichung interessiert. "Mehmet" erobert verbotenes Terrain.

Die Zitate von Veteranen stammen aus "Mehmets Buch" von Nadire Mater, das der WELT in einer englischen Übersetzung vorliegt.

Jahrzehntealter Konflikt

Mit knapp 30 Millionen Menschen sind die Kurden das größte Volk ohne eigenen Staat. Ihr Siedlungsgebiet wurde nach dem Ersten Weltkrieg zwischen den neuen Staaten Syrien, dem Irak, der Türkei, dem Iran und Armenien aufgeteilt. Bei der Gründung der Türkischen Republik 1923 wurden sie nicht als nationale Minderheit anerkannt. Die Armee schlug seither mehrere Aufstände der Kurden blutig nieder.

1984 begann die stalinistische Kurdische Arbeiterpartei (PKK) ihren bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Kurdistan. Seitdem herrscht im Südosten des Landes Krieg. Nach dem Bericht einer Untersuchungskommission des türkischen Parlaments von 1998 zerstörte die Armee 3428 kurdische Dörfer, drei Millionen Kurden wurden zu Flüchtlingen, 5500 Zivilisten wurden getötet, 17 000 verletzt. Unabhängige Experten sprechen von 10 000 Zivilisten, 13 000 PKK-Kämpfern und 7000 Angehörigen der Sicherheitskräfte, die dem Krieg zum Opfer gefallen seien. Auch die PKK tötete Zivilisten, vor allem "Kollaborateure" und deren Familien.

Der erbitterte türkische Kampf gegen den Separatismus erstreckt sich auch auf demokratische kurdische Kräfte. Selbst PKK-ferne, gemäßigte Parteien genießen kaum Bewegungsfreiheit, zahlreiche kurdische Politiker sind inhaftiert.

PKK-Chef Abdullah Öcalan wurde 1999 von türkischen Sicherheitskräften in Kenia entführt, auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer festgesetzt und als Terrorist zum Tode verurteilt. Auf Öcalans Appell hin hat die PKK nach eigenen Angaben damit begonnen, ihre Kämpfer aus der Türkei abzuziehen.