jungle world, 25.8.1999

Einstürzende Neubauten

Es gibt viele Methoden, Menschen zu töten: Man kann sie ohne Wohnung lassen oder ihnen eine Wohnung am Marmara-Meer geben

Mit einem Wert von 7,4 auf der Richter-Skala war es eines der schwersten Erdbeben des Jahrhunderts: Über 100 Quadratkilometer erstreckt sich das Katastrophengebiet, allein im ersten konzentrischen Kreis leben etwa 15 Millionen Menschen. Kein Industriestaat hätte eine Zerstörung dieses Ausmaßes ohne eine größere Zahl von Todesopfern überstanden, kein noch so gut ausgerüsteter Rettungsapparat hätte die Schwierigkeiten problemlos bewältigen können. Die Zahl der Toten wurde am Wochenende mit über 12 000 angegeben, weitere 35 000 galten als vermißt. Sollten sie tot geborgen werden, hätte das Erdbeben am Bosporus mehr Menschenleben gefordert als der Krieg in Kurdistan. Eine brutale Bilanz.

Ein Blick auf die Zerstörungen genügt, um zu erkennen, daß hier nicht allein unbezwingbare Naturgewalten gewütet haben - von göttlichen Kräften, die Ismail Köse, Abgeordneter der Partei der Nationalistischen Bewegung, am Werk gesehen haben wollte, ganz zu schweigen. Vielerorts stehen die Trümmer zusammengebrochener Wohnhäuser neben unbeschadeten Gebäuden - ein Bild, das die Ursachenforschung vereinfacht: die miserable Bauweise vieler Häuser. Naheliegend also, daß nun Baufirmen und Bauaufsichtsbehörden in der Türkei im Mittelpunkt der Kritik stehen. "Mörder" titelte etwa die Tageszeitung Hürriyet am Tag nach der Katastrophe. Wie berechtigt diese Anklage ist, zeigt das Beispiel des untergetauchten Bauunternehmers Veli Gö ç er. Zwei von ihm in Yalova errichtete Wohnkomplexe stürzten fast restlos ein und begruben mehr als 200 Menschen, während benachbarte Gebäude unbeschadet blieben.

Vorreiter dieser Bebauung sind die seit den fünfziger Jahren illegal erstellten Elendssiedlungen, die Gecekondus ("über Nacht gelandet"). Noch bis in die achtziger Jahre konnten sie in die urbanen Strukturen integriert werden. Seitdem aber hat der Run auf die Großstädte immer größere Ausmaße angenommen. Der Grund: Durch die Mechanisierung in der Landwirtschaft und die Öffnung der Märkte für ausländische Produkte verloren immer mehr Menschen ihre traditionellen Subsistenzgrundlagen und strömten in die Metropolen. Nicht nur als billige Arbeitskräfte, sondern auch als Konsumenten gewannen sie an Bedeutung. Wachsende Binnennachfrage und liberale Wirtschaftspolitik lösten einen Aufschwung von Industrie und Handel aus, auch ausländisches Kapital begann Produktionsstätten zu errichten. Die Attraktivität der Städte stieg also weiter, zumal der Krieg in Kurdistan hinzukam, vor dessen Folgen Millionen aus dem Osten des Landes in die west- und südtürkischen Städte flohen.

Zahlreiche Zuwanderer errichten noch heute ihre armseligen Behausungen auf öffentlichem Gelände nahe dem Stadtrand, meist entlang wichtiger Verkehrsverbindungen. Man plant für die Zukunft: Schon aus den Neubauten in den Gecekondus ragen die Befestigungseisen für den weiteren Ausbau hervor. Die Migranten zahlen Schutzgelder an die Baumafia, die die Besiedlung kontrolliert und mit Bestechungsgeldern die Aufsichtsbehörden in Schach hält. Örtliche Politiker kassieren mit, halten ihre schützenden Hände über die gesetzwidrigen Siedlungen und sichern sich so die dortigen Wählerstimmen.

Zumeist im Vorfeld wichtiger Wahlen werden diese Siedlungen legalisiert. Daraufhin erhalten sie Anschluß an die Wasser- und Stromversorgung, die Eigentümer werden im Grundbuchamt registriert. Spätestens nach der Legalisierung stockt die Baumafia die Gecekondus auf. Einen Teil der angebauten Wohnungen erhält der Grundstückseigentümer, um sie profitabel weiterzuverkaufen, die restlichen verscherbelt die Baumafia. Selbstredend gilt: Je miserabler das verwendete Material, desto geringer die Kosten, desto größer die Profitspanne. Schätzungen des nationalen Katasteramtes zufolge lebt mehr als ein Drittel der türkischen Stadtbevölkerung in illegal errichteten Häusern. Nur ein Drittel aller Gebäude soll vorschriftsgemäß gebaut worden seien.

Inzwischen hat sich das Gecekondu-Prinzip auf die gesamte Baubranche ausgeweitet. Noble Villen mit Blick auf den Bosporus entstehen ebenso illegal oder halblegal wie Schlafstädte, die rund um die Metropolen aus dem Boden gestampft werden. Bauvorschriften, Natur- und Wasserschutzgebiete sowie - sofern überhaupt vorhanden - Flächennutzungspläne interessieren dabei nicht. Studien über die Bodenbeschaffenheit sind erst gar nicht vorgesehen. So erklären Experten die große Zahl der Todesopfer in Adapazari damit, daß die Stadt auf sumpfigen Gelände errichtet wurde.

Dennoch zielen die zahlreichen Rufe nach härteren Strafen für Pfusch am Bau und einer strengeren behördlichen Aufsicht an den Ursachen des Problems vorbei. Denn die Massen von Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die Metropole strömen, reproduzieren fortwährend die Nachfrage nach erschwinglichem Wohnraum. Allein Istanbul wächst täglich um tausend Einwohner - ein Zuwachs, der allenfalls mit einem staatlichen Wohnungsbauprogramm aufgefangen werden könnte. Doch der türkische Staat steht mit einem Haushaltsdefizit von zwanzig Milliarden Dollar so tief in der Kreide, daß ein solches Programm schlicht undenkbar ist.

Noch wenige Tage vor dem Beben hatte Innenminister Sadettin Tantan angekündigt, er wolle alle Gecekondus in Istanbul abreißen lassen. Und tatsächlich sind in den letzten Jahren einzelne Siedlungen, meist gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung, niedergerissen worden. Normalerweise rückten die Bulldozer jedoch nur an, wenn Gewerbesiedlungen oder andere lukrative Projekte entstehen sollten, also größere finanzielle Interessen im Spiel waren. Ein flächendeckender Abriß, in dessen Folge Millionen von Menschen ihre Quartiere verlieren würden, ist nicht realisierbar, ohne den Betroffenen Alternativen anzubieten. Daran ist nach dem Erdbeben noch weniger zu denken als zuvor.

Mehr als eine Viertel Million Menschen sind nun obdachlos. Und Süleyman Demirel tönt: "Der Staat ist stark, er wird alle Wunden heilen." Dieselbe Erklärung hatte der Staatspräsidenten nach dem Erdbeben von Ceyhan abgegeben. Dennoch haust mehr als ein Jahr nach dieser Katastrophe die Mehrheit der Opfer noch immer in Zeltstädten und Notunterkünften. Mit der noch viel höheren Zahl von Menschen, die jetzt auf der Straße sitzen, steht Ankara vor einer für den maroden Staat allein kaum lösbaren Aufgabe. Die Mischung aus Elend, Verzweiflung und Wut aber wird sich kaum von selbst legen. Und die bislang desaströs angelaufenen staatlichen Hilfsmaßnahmen lassen für den Umgang mit den Betroffenen Schlimmes erahnen.

Dabei wird das Land von Profis regiert. So war Demirel vor seiner politischen Karriere als Bauingenieur tätig und konstruierte das staatliche Krankenhaus von Erzincan. Beim Erdbeben von 1992 war es eines der ersten Gebäude, das einstürzte. Auch Meldungen wie die aus Gölcük fördern nicht gerade das Vertrauen in staatliche Institutionen: Dort soll ein israelisches Rettungsteam zunächst auf den von einer Flutwelle schwer zerstörten Marinestützpunkt gelotst worden sein, um verschüttete Armeeangehörige, darunter einige hochrangige Offiziere, zu bergen. Die Bevölkerung des Städtchens hingegen blieb drei Tage lang auf sich alleine gestellt.

Trotz der verheerenden Folgen: Der worst case blieb aus. Istanbul mit seinen zwölf bis 18 Millionen Einwohnern ist weitgehend verschont geblieben. Gegenüber der Tageszeitung Milliyet sagte Celal Sengör von der Technischen Universität Istanbul, dieses Erdbeben sei eine seit längerem für die Region um Adapazari erwartete Erschütterung gewesen. In zehn bis zwölf Jahren, schätzt er, wird die Millionenmetropole am Bosporus von einer ähnlich schweren Erschütterung heimgesucht werden. Die Türkei hat demnach ein Jahrzehnt Zeit, sich auf diese Katastrophe vorzubereiten. Geht man von den bisherigen Erfahrung aus, wird sie diese Zeit nicht nutzen. Vorbereitet scheinen einzig die Baufirmen. Um einen etwaigen Baustopp zuvorzukommen, haben sie wenige Tage nach dem Beben damit begonnen, Risse in geschädigten Gebäuden zu übertünchen.

Ilker Deniz Yücel

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