Neue Westfälische, 27.8.1999

Erste Ausnahmevisa für Erdbebenopfer

Istanbul/Berlin (dpa) - Schlamm, Streit und Hoffnungsschimmer: Während in der Westtürkei immer noch Hunderttausende in Zelten und unter Plastikplanen ausharrten, wuchs am Donnerstag die Kritik an der Erdbebenhilfe der türkischen Regierung.

Gleichzeitig versuchten die Ersten, mit einer Sondergenehmigung aus dem Katastrophengebiet nach Deutschland zu entkommen. Unterdessen erschreckte ein Beben der Stärke 3,8 die Urlauber an der Südküste des Landes.

In Istanbul stellten Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) das erste Dutzend Ausnahmevisa aus. Die Nachfrage von Erdbebenopfern sei erheblich größer, hieß es. Viele der Antragsteller erfüllten aber nicht die Bedingungen für eine schnelle Einreise nach Deutschland. Nach einem Beschluss von Bund und Ländern haben Kinder im Alter unter 16 Jahren sowie Ehepartner von Türken, die mit einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung in Deutschland leben und aus dem Erdbebengebiet stammen, Anspruch auf die Ausnahmevisa. Die Aufenthaltsgenehmigungen sind auf 15 Tage befristet, können aber auf bis zu 90 Tage verlängert werden.

Die Flüge aus der Türkei nach Deutschland sind allerdings nahezu ausgebucht. Neben den Erdbebenopfern wollen auch Helfer und Türkei- Urlauber zurück. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur bei Fluggesellschaften.

In der Region Izmit, die von der Naturkatastrophe am vergangenen Dienstag am stärksten betroffen war, litten die Überlebenden am Donnerstag weiterhin unter heftigem Regen. Viele mussten die dritte Nacht in Folge im Freien verbringen, Tausende suchten erneut Schutz in Zelten und unter Plastikplanen. Zeltplätze verwandelten sich inzwischen in riesige Schlammflächen. Am Mittwochabend wurde in Alanya in der bei Touristen beliebten Provinz Antalya ein Beben der Stärke 3,8 auf der Richterskala registriert. Schäden wurden nicht registriert.

Nach den jüngsten Angaben des Krisenstabes in Ankara wurden bei der Katastrophe vom Dienstag vergangener Woche 13 009 Menschen getötet. 26 606 Menschen wurden verletzt. Die Helfer haben praktisch jede Hoffnung aufgegeben, weitere Überlebende zu finden. Sie konzentrieren ihre Anstrengungen nun darauf, die Trümmer wegzuräumen und die Obdachlosen mit Zelten und Nahrungsmitteln zu versorgen. Besonders dringend werden Babynahrung, Hygieneartikel und Medikamente benötigt.

Unterdessen wuchs das Misstrauen gegen staatliche Hilfsmaßnahmen in der Türkei. Die Zeitung «Radikal» kritisierte geplante Steuererhöhungen, die den Wiederaufbau in der Erdbebenregion finanzieren sollen. Die Abgaben würden die Wirtschaft schädigen und private Spender abschrecken. Außerdem gebe es keinerlei Garantie dafür, dass die Mittel sinnvoll eingesetzt würden.

Auch der Bundesausländerbeirat in Deutschland riet von Spenden an staatliche türkische Organisationen ab. Sinnvoller sei direkte Hilfe. Besonders wichtig seien langfristige Projekte für den Wiederaufbau, sagte Beiratschef Murat Cakir der dpa in Wiesbaden: «Was soll man auch von einem Staat halten, der erst sechs Tage nach dem Erdbeben Zelte liefert, die dann noch nicht einmal den Regen abhalten».

Unterdessen hat die türkische Regierung nach Angaben der Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Spendenkonten von einheimischen Hilfsorganisationen gesperrt. Betroffen seien vor allem das kurdisch-türkische Hilfswerk Mazlum-Der und die «Internationale Humanitäre Organisation» (IHH). Durch diese Aktionen wolle die Regierung «von ihren eigenen sehr schleppenden und oft unzulänglichen Hilfsaktivismus ablenken», sagte ein Sprecher der IHH in Frankfurt.

Ein Sprecher von Mazlum-Der bestätigte der dpa in Istanbul, dass alle Konten seiner Organisation gesperrt wurden. Es habe kein Sonderkonto für Erdbeben-Spenden gegeben. Mazlum-Der steht schon seit einiger Zeit unter besonderer Beobachtung der Regierung, unter anderem weil die islamische Organisation für Schülerinnen das Recht auf das Tragen von Kopftüchern im Unterricht durchsetzen will.

Ministerpräsident Bülent Ecevit räumte Versäumnisse der türkischen Regierung nach dem Erdbeben ein. Es sei jedoch «praktisch unmöglich, Verantwortlichkeiten festzulegen», sagte er dem französischen Magazin «Le Nouvel Observateur». Er halte die Vorwürfe für «ein bisschen ungerecht», sagte Ecevit. Schließlich seien Straßen und Telefonleitungen 48 Stunden lang blockiert gewesen, so dass es für die Helfer kein Durchkommen gegeben habe.