Nürnberger Nachrichten, 26.8.1999

Türkische Seismologie

Das Erdbeben hat in Atatürks Republik Risse hinterlassen

VON FELIX HARTLIEB

Seismisch, Seismologe, Seismograf. Die gemeinsame Wurzel dieser Wörter ist das griechische seismos. Erschütterung zu Deutsch.

Die Erschütterung, mit der das Erdbeben die Menschen rund um das Marmarameer heimgesucht hat - und dort lebte nahezu jeder vierte Türke - hat die Häuser umso gründlicher zusammenbrechen lassen, je neuer sie waren. Dass Pfusch am Bau die Ursache gewesen sei, wäre eine zu harmlose Erklärung. Das war kriminell und, wie sich jetzt erwies, mörderisch.

Unfähiger Staat

Die Erschütterung hat aber auch ein nun schon achtzig Jahre altes Konstrukt arg mitgenommen. Seit der Schreckensnacht von Izmit zeigt die türkische Republik des Architekten Mustafa Kemal mit dem Ehrennamen Atatürk, Vater der Türken also, tiefe Risse. Die bis heute anhaltende Unfähigkeit des Staates, seinen Erdbebenopfern schnell und wirksam zu helfen, zeigt drastisch wie schon lange nicht mehr, dass dieses Gemeinwesen an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien einer gründichen Erneuerung bedarf. Die Situation ist für die Mächtigen in Ankara so prekär geworden, dass ihnen womöglich ihre bisher staatsfrommen Bürger Beine machen könnten.

Der Türkenzorn, gewachsen aus dem zerbrochenen Vertrauen in den alles heilenden Staat, könnte diesmal nicht schon bei den regierenden und opponierenden Parteipolitikern Halt machen, deren Eitelkeiten, Bakschisch-Durchstechereien und Korruptionsaffären seit Jahr und Tag notorisch sind. Er könnte diesmal die wahren Mächtigen dieses Staatswesens treffen, und das sind noch immer die Angehörigen der Generalität, der selbsternannten Hüter des Atatürk-Erbes.

Es ist ja unbestritten, dass dieser Mensch von 1919 an aus den Trümmern des untergegangenen Osmanenreiches einen türkischen Nationalstaat geschmiedet und dessen Bewohner einer rigorosen Modernisierung unterworfen hat. Sultanat und Kalifat nahm er ihnen, Fes und Schleier verbot er, Laizismus befahl er, Lesen und Schreiben brachte er ihnen bei. Eine Demokratie aber hinterließ er nicht, und sein rigoroser türkischer Nationalismus stiftet Unheil bis heute.

Der Krieg gegen die Kurden, der Südostanatolien verwüstet, Hunderttausende vertrieben und die Wirtschaft des Landes schwer geschädigt hat, gehört zu Atatürks Erbe doch auch. Was soll denn davon noch immer gehütet werden? Muss es denn sein, dass nach der Aburteilung Öcalans und der damit erreichten Demoralisierung seiner PKK das Eintreten für kurdische Minderheitsrechte immer noch als Staatsverbrechen verfolgt wird?

800 000 junge Türken leisten Wehrdienst, an die 200 000 Zelte hat diese Armee. Aber die obdachlosen Erdbebenopfer stecken im Schlamm, wobei doch außer Zweifel steht, dass die uniformierten Söhne des Volkes ihren in Not geratenen Landsleuten nicht minder freudig und opferwillig helfen möchten, als es ihre deutschen Kameraden bei der vergleichsweise harmlosen Oderflut getan haben. Wo blieb er denn, der Marschbefehl?

Die Türken haben längst ein besseres, offeneres, tatkräftigeres Gemeinwesen verdient als das solcher verkalkter Erben, und jetzt, angesichts der Marmara-Katastrophe, scheinen sie das selbst zu erkennen. Sie haben Besseres verdient als die Mär von einem exzellenten, von der restlichen Menschheit aber teils befehdeten, wenigstens aber missverstandenem Volk.

Vorurteil gepflegt

Auch wenn der unsägliche türkische Gesundheitsminister Durmus dieses Vorurteil noch immer pflegt ("Keine Blutspenden vom griechischen Erbfeind"): Dieses Volk hat das Recht, die verordnete Isolation zu verlassen und Volk unter Völkern zu sein, nicht besser und nicht schlechter als andere. Die Helfer aus Israel und den USA, aus Griechenland, Italien, Frankreich, Deutschland haben die erste Bresche geschlagen. Je mehr nun die Türken aufwachen, desto stärker werden die Throne der ordensgeschmückten Atatürk-Erben wackeln.