Schaffhauser Nachrichten, 26.8.1999

Türkei erwartet ein politisches Nachbeben

Der türkische Skandalminister Durmus demonstriert, wie primitiv die rechten Parolen sind.

Von Frank Herrmann, Istanbul

Osman Durmus hat Redeverbot, jedenfalls für die nächsten Tage. Angeblich soll der Gesundheitsminister seinen Regierungschef Bülent Ecevit so vergrätzt haben, dass der ihn zum Schweigen verdonnerte. Durmus hatte ausländische Hilfe für die Opfer des Erdbebens für überflüssig gehalten. Blutspenden aus Athen liess er nicht ins Land. Armenische Ärzte durften nicht einreisen. Als griechische Kapitäne ihre Kühlschiffe als provisorische Leichenhallen anboten, lehnte er selbstherrlich ab. Dass Retter aus Hellas vor Freude weinten, als sie Kinder lebend aus den Trümmern bargen, hat Millionen von Türken tief bewegt. Durmus liess es kalt.

Nationalisten enttäuschten Hoffnungen auf mehr Effizienz

Die Istanbuler Zeitung «Radikal» nennt ihn seitdem einen «ignoranten Rassisten». Der Soziologe Dogu Ergil, Vorsitzender des Zentrums für die Erforschung gesellschaftlicher Probleme in Ankara, glaubt nicht an späte Reue des Skandalministers. «Durmus wird sich an seinen Sessel krallen», sagte er. «Seine Partei wird sich für ihn stark machen, sie will keinen Posten verlieren. Hier zu Lande tritt sowieso niemand nach einer Fehlleistung zurück.» Die Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), der Durmus angehört, galt bis dato als Aufsteiger des Jahres. Im April war sie mit über 18 Prozent der Stimmen ins Parlament gewählt worden. Eine Gefühlswelle, ausgelöst durch die Festnahme des Kurdenführers Abdullah Öcalan, hatte die Rechten nach oben gespült. «Jetzt zeigt sich, wie primitiv die Parolen von Blut und Erde sind», meint Ergil. «Die Rechten sagen, ein Türke sei mehr wert als zehn Europäer. Aber mit solchen Sprüchen flickt man keine Strasse, repariert man keine Stromleitung, verteilt man keinen einzigen Laib Brot.» Viele hätten die MHP ohnehin nicht wegen ihrer Ideologie gewählt. Sie hätten auf mehr Effizienz in den Ämtern gehofft und seien nun bitter enttäuscht. Nach Ansicht des Wissenschaftlers wird den Erdstössen am Marmarameer über kurz oder lang ein politisches Nachbeben folgen. Die Türken hätten ihren Glauben an die Allmacht des Staates verloren - unter ihnen auch Väter, die ihre Söhne noch vor kurzem nach eben diesem Staat Devlet nannten. «Bisher gab es eine stillschweigende Abmachung. Der Staat sagte: Kümmert euch um euer Privatleben und verhaltet euch ruhig. Ich gebe euch alles, was ihr braucht. Ihr mischt euch dafür nicht in die Politik.» Die meisten hätten das akzeptiert. Aber jetzt stehe der Konsens in Frage. In den Tagen nach dem Beben hätten die Menschen begriffen, dass sie «eine Kuh fütterten, die keine Milch gab, als sie Milch brauchten».

Geld fliesst in die Westtürkei

Premier Ecevit werde sich darauf hinausreden, dass er erst wenige Monate regiere und das Chaos von seinen Vorgängern übernommen habe. Um die kochende Volksseele zu beruhigen, werde er Härte gegen die Baubranche de-monstrieren und das eine oder andere Exempel statuieren. Die ungelöste Kurdenfrage, so Ergil, sei schlagartig von der Spitze der Prioritätenliste verschwunden. Im Herbst habe das Parlament ein Investitionsprogramm für den kurdischen Südosten beschliessen wollen. Davon rede nun niemand mehr. «Wenn Sie jetzt einen Politiker nach Geld für die Kurden fragen, hält der Sie für verrückt. Alles fliesst in die Westtürkei.» Für den sozialen Frieden sei es entscheidend, dass die Bebenregion wieder auf die Beine komme. Am Marmarameer schlage nicht nur das Herz der türkischen Grossindustrie. Auch viele Kleinbetriebe - das Rückgrat der Wirtschaft - hätten sich dort angesiedelt. Wenn der Wiederaufbau nicht schnell beginne, drohe für längere Zeit eine drastisch höhere Arbeitslosenquote.