Süddeutsche Zeitung 26.8.1999

Erdbebenopfer Staatsmacht

VON WOLFGANG KOYDL, ISTANBUL

Das Bild erinnerte an einen anderen Ort und an eine andere Zeit: Die Herren des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei waren in Ankara zu einer Sondersitzung nach dem Erdbeben zusammengekommen, und für Augenblicke glaubte man, Zeuge einer Tagung des Moskauer Politbüros unter dem damaligen sowjetischen Parteichef Konstantin Tschernenko zu sein: So wächsern und steif, so entrückt auch von der Wirklichkeit draussen vor den Portalen der Macht wirkten die höchsten zivilen und militärischen Vertreter der türkischen Republik.

Nie zuvor wurde so augenfällig, dass dieser Staat von einer Kaste gelenkt wird, die alle Attribute einer Nomenklatura besitzt. Sie ist immun gegen Veränderungen, allein auf den eigenen Machterhalt bedacht; sie hat jeglichen Kontakt zu einer Gesellschaft verloren, die sich im Gegensatz zu ihrer Führung radikal weiterentwickelt hat, und sie legitimiert sich durch eine veraltete Ideologie. Symbolisiert wird das System am besten durch seine Kader: Nirgends regieren ältere Führer ein jüngeres Volk.

Doch das Erdbeben hat alles verändert. Das Gebäude des kemalistischen Staates wurde erschüttert, durch seine Mauern und Wände ziehen sich tiefe Risse. Ob es einstürzen wird, ist ungewiss, doch Wetten will zur Zeit niemand annehmen - nicht das Volk und schon gar nicht die Staatsmacht. Selbst deren einst geschmeidige Reflexe scheinen mittlerweile gichtig zu verknöchern: Mehr als eine Woche dauerte es, bis Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu die Kritik an seinen Streitkräften als "totalen Unsinn" zurückwies und dem Volk wieder mit dem Stock drohte.

Die große Frage ist jedoch, ob die Türken sich weiterhin einschüchtern lassen.

Denn die traumatische Erfahrung des Bebens hat sie viererlei gelehrt. Erstens: der Staat ist längst nicht so mächtig, wie er immer vorgegeben hat; zweitens: wer sich auf ihn verlässt, ist schon verlassen; drittens: dem Staat sind seine Bürger gleichgültig; und viertens und am wichtigsten: mit eigener Kraft schaffen wir alles, was wir wollen, viel schneller und viel besser.

Das sind revolutionäre Gedanken für ein Volk, das im Staat immer den Beschützer und Erhalter gesehen hat, gegen den Widerworte verboten waren. Hier kosten Menschen den Geschmack des Aufruhrs, die von ihren Führern stets nach Kasernenhofmanier herumkommandiert und kujoniert wurden und die nie aufmucken durften. Mit einer Ausnahme: In den täglichen Broterwerb mischt sich der türkische Staat schon lange nicht mehr ein. Ob Bäcker oder Banker, Gemüsehändler oder Industrieller - die Staatsbürokraten in Ankara lassen sie gewähren, solange sie Arbeitsplätze schaffen, Steuern zahlen und Gewinne erwirtschaften. Nur mitreden oder gar entscheiden dürfen auch sie nicht.

Wir brauchen den Staat nicht, je weniger er sich einmischt, desto besser für das wirtschaftliche Wohl des Landes - in der Geschäftswelt galt diese Maxime schon lange. Wird sie nun auch in die Politik Einzug halten? Werden sich die Massen erheben, die korrupte Polit-Kaste wegfegen, die Denkmäler und Institutionen stürzen? Wahrscheinlich nicht. Zumindest dürfte es für solche Szenarien noch zu früh sein. Denn die Türken mit ihrem Pragmatismus und ihrem Fleiß schätzen Sicherheit und Stabilität. Die türkische Nation ist eine Nation von selbständigen Unternehmern. Selbst der Schuhputzer, dessen Unternehmen aus einer Kiste mit Bürsten, Lappen und Schuhcremes besteht, kann bei einem revolutionären Umsturz alles verlieren. Er und alle anderen Selbständigen im Lande bis hinauf zum Alleineigner einer weltweit operierenden Holding wären jedoch jederzeit für eine altmodische, bürgerliche Mittelklassen-Revolution zu haben.

Die Macht des türkischen Staates - eines gestrengen und übermächtigen Vaters - beruhte stets darauf, dass er seine Untertanen unmündig und abhängig hielt. Doch in der Nacht der Katastrophe und in den chaotischen Tagen danach, als sie mit ihrer Angst, ihren Alpträumen und ihrem Ärger allein waren, sind die Kinder des türkischen Staates erwachsen geworden wie ein Halbwüchsiger, der in einer Krisensituation vergebens nach dem Vater Ausschau hält und plötzlich auf sich alleine gestellt ist.

Was das türkische Volk mit diesem neugewonnenen Selbstvertrauen anfangen wird, weiß noch niemand. Der Staat hat dabei noch Glück: Nun, da sie ihren ersten Zorn heraus geschrieen haben, sind die Überlebenden damit beschäftigt, die Minimalbedürfnisse des Lebens zu befriedigen - sauberes Wasser, Essen, Schutz vor Regen, Kleidung. Der Staat hat noch eine letzte Chance: Er kann sich - vielleicht - rehabilitieren, wenn es ihm bis zum Einbruch der kalten Jahreszeit gelingt, den Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu geben und im Bebengebiet ansatzweise Normalität herzustellen.

Doch damit rechnet niemand. Ankara würde vielmehr am liebsten den Mantel des Schweigens und des Vergessens über das Geschehene breiten - so wie früher nach Katastrophen in anderen Teilen des Landes. Diesmal wird es nicht gelingen. Denn diesmal schlug die Natur nicht im unzugänglichen Südosten zu, sondern vor den Toren Istanbuls. Diesmal wurden nicht analphabetische kurdische Bergbauern obdachlos, sondern eine politisch wache bürgerliche Mittelklasse. Diesmal wird in der Türkei nichts mehr so sein, wie es einmal war.