Wormser Zeitung, 24.8.1999

Angst vor Beben und Seuchen

Seismologe: "Istanbul bedroht" / Einige Städte stehen unter Quarantäne

ISTANBUL (dpa) - Fast eine Woche nach dem Beben mit Stärke 7,8 in der Westtürkei nehmen Angst und Entsetzen kein Ende: Istanbul wurde zweimal mit Stärke 4,0 erschüttert, ebenso Ostanatolien. Außerdem wächst die Seuchengefahr. Der Istanbuler Seismologe Ali Pinar meint, es werde mindestens dreißig Jahre dauern, bis sich ein weiteres Beben von Stärke 6 ereignet. Dagegen sagt Erdbebenforscher Paul Tapponier, Leiter der tektonischen Abteilung am geophysikalischen Institut Paris: "Istanbul ist direkt bedroht." Denn bei den Beben 1939, 42, 43, 44, 57, 67 und nun 99 habe sich das Epizentrum immer gen Westen verlagert: "Nun konzentriert sich der Druck auf das Marmarameer bei Istanbul. Das Beben kann in einer Woche, in einem oder zehn Jahren erfolgen."

Ausländische Retter bauen ihre Zelte ab. "Es gibt kaum Hoffnung, Lebende zu finden", so der Einsatzleiter des Technischen Hilfswerks, Friedsam. Ein Grund seien Temperaturen von bis zu 40 Grad: "Die Körper trocknen aus". Wenn jetzt Überlebende geborgen würden, dann durch glückliche Umstände, so wenn Verschüttet Essen oder Wasser hätten. Laut TV-Sendern waren noch vereinzelt Stimmen aus Trümmern zu hören. Die Lage der Obdachlosen könnte sich verschlechtern. Für die nächsten Tage ist Regen vorausgesagt.

Auch Seuchengefahr steigt, einige Städte stehen unter Quarantäne. Ärzte befürchten, es könnten sich Typhus, Cholera, Ruhr und Hepatitis ausbreiten. Viele Menschen, die auf den Straßen schlafen, haben Durchfall. Über den Städten hängt fauler Geruch, Müll stapelt sich, es gibt keine Toiletten und Waschmöglichkeiten. Die Retter, die mit Mundschutz arbeiten, rechnen damit, dass unter Trümmern unzählige verweste Opfer liegen.

In Izmit werden die Toten auf einer Eisbahn gestapelt, anderenorts liegen sie in Tücher eingewickelt auf Straßen. Ärzte warnen, sie - wie bei Muslimen üblich - vor der Beerdigung zu waschen. Das Wasser würde die Straßen runterlaufen und Krankheiten auslösen. Auch das Präsidium für Religionsangelegenheiten erklärte, man müsse ohne Waschung beerdigen. Auf die Gräber wird Desinfektionsmittel gesprüht.

Die türkische Architektenkammer warnt, ohne Untersuchung in beschädigte Häuser zurückzugehen. Zur Analyse des Erdbebens sind Wissenschaftler des Geoforschungszentrums Potsdam und Ingenieure der Bauhaus-Uni Weimar angereist.