Süddeutsche Zeitung 23.8.1999

Nun drohen Cholera, Typhus und Ruhr

Sechs Tage nach dem Beben in der Türkei gibt es kaum noch Hoffnung auf Überlebende - die Seuchengefahr wächst

Einhundertsechzehn Stunden lagen sie unter Trümmern, dann endlich kamen die französischen Helfer zur 19-jährigen Ilknur und zur zehnjährigen Oznur durch, die unter den Trümmern in Gölcük am Marmara-Meer begraben lagen. Am Samstag konnte noch eine 95 Jahre alte Frau aus den Resten eines Hauses geborgen werden, am Sonntag retteten die Bergungstrupps in Gölcük eine 45-Jährige.

Doch die Erfolgsmeldungen sind am fünften Tag nach dem verheerenden Erdbeben in der West-Türkei selten geworden. 70, vielleicht 80 Stunden hält es ein Mensch unter den Trümmern aus - zu groß ist die Hitze, um sie länger ohne Wasser zu überstehen. Die Helfer ziehen nach und nach aus dem Katastrophengebiet ab. Wer jetzt noch lebend ausgegraben wird, dem ist ein Wunder widerfahren. Mehr als 12 000 Tote haben die Behörden bis zum Sonntag registriert; niemand weiß, ob es am Ende 35 000 oder 45 000 sein werden.

So konzentriert sich die Hilfe darauf, die Überlebenden vor Seuchen zu bewahren, sie mit dem Nötigsten zu versorgen, und das ist schwer genug. Die Wohnung in Trümmern, kein Waschbecken, keine Toilette weit und breit, und das alles bei 40 Grad im Schatten - so kampieren zum Beispiel die Einwohner der türkischen Stadt Yalova am Marmarameer seit fünf Tagen. Die Erleichterung, das Beben überlebt zu haben, weicht der Angst vor Krankheiten. "Ich habe nicht ein einziges fahrbares Klohäuschen gesehen", beschwert sich Attila Karasoglu. "Ich muss hinauf in meine zerstörte Wohnung gehen. Aber die meisten Leute haben Angst."

Und unter den Trümmern in der Stadt liegen noch zahllose Tote. "Seit zwei Tagen atmen wir hier den Leichengeruch ein", sagt Attila. "Die Kinder spielen neben verwesenden Leichen." Die Obdachlosen müssen evakuiert werden, fordert er. Attila hat seine Frau und seine Kinder weggebracht aus Yalova. Er selbst ist zurückgekommen, um zu helfen. Die Familie Gelik hatte diese Möglichkeit nicht. Sie haust seit dem Beben vor dem Stadion der Stadt, wo der Krisenstab tagt. Die Familienmitglieder verrichten ihre Notdurft auf einer nahgelegenen Baustelle - meist am Abend, wenn es schon so dunkel ist, dass keiner zugucken kann.

Fünf Tage nach Beben in der Türkei unternehmen nun die Behörden erste Schritte zur Seuchenbekämpfung. Nach Angaben von Ärzten könnten unter anderem Cholera, Typhus und Ruhr ausbrechen. Es mangelt an sauberem Wasser, Waschmöglichkeiten und Toiletten. Die ersten Durchfall-Erkrankungen sind bereits gemeldet worden. In der besonders schwer betroffenen Stadt Sakarya dürfen die Bewohner einiger Stadtteile diese Bezirke nicht mehr verlassen, berichtet die Zeitung Radikal. In Gölcük gibt es ebenfalls Straßenkontrollen. In einigen Gebieten wurden Desinfektionsmittel in den Straßen versprüht und Kalk gestreut. Mitarbeiter des staatlichen Gesundheitsdienstes verabreichen Tetanus-Impfungen. Arbeitsminister Yasar Okuyan hat angekündigt, für die schätzungsweise Hunderttausenden von Obdachlosen sollten in den kommenden Tagen Zeltstädte und sanitäre Anlagen bereitgestellt werden. Obdachlose sollen in Sporthallen, Jugendheimen und auch in Ferienanlagen im Urlaubsgebiet untergebracht werden. Besitzer von Baggern, Räumgerät, Generatoren und anderen für die Bergungsarbeiten gebrauchten Maschinen sind in der ganzen Türkei per Erlass verpflichtet, diese den Provinzregierungen zur Verfügung zu stellen.

Trotz dieser Aktionen wächst die Kritik an den Behörden, denen schlechte Organisation vorgeworfen wird. So seien nur 53 000 der insgesamt fast 800 000 türkischen Soldaten im Erdbebengebiet eingesetzt worden. Drei türkische Minister haben die Aufgaben der Provinzgouverneure im Erdbebengebiet übernommen, die wegen Unfähigkeit entlassen worden waren. Präsident Süleyman Demirel wies dennoch die Kritik zurück. Der Staat könne keine Wunder bewirken, sagte er bei einem Besuch in der Provinz Bolu. Bei der Katastrophe seien mehr als 60 000 Wohnungen zerstört worden.

Zur Trauer um die Toten, der Sorge um die Gesundheit und der Wut auf die Regierung kommt immer noch die Angst vor einem neuen großen Beben. In Istanbul wurden die Menschen in der Nacht zum Sonntag erneut durch zwei größere Nachbeben aufgeschreckt. Türkische Seismologen schließen ein weiters großes Beben für die nahe Zukunft aus, doch andere Forscher halten die Zehn-Millionen-Metropole Istanbul für bedroht, so der Leiter der tektonischen Abteilung am geophysikalischen Institut in Paris, Paul Tapponier. Das jüngste Beben sei auf die von 1939, 1942, 1943, 1944, 1957 und 1967 gefolgt. Jedes Mal habe sich das Epizentrum nach Westen verlagert. "Nun konzentriert sich der Druck auf das Marmarameer südlich von Istanbul. Das Beben kann in einer Woche, in einem oder in zehn Jahren erfolgen", sagte Tapponier.