Süddeutsche Zeitung 23.8.1999

Selbst die Hoffnung fällt in Trümmer

Die Türkei nach dem Beben: Zorniges Volk, kopflose Regierung

Noch gelingen den Rettern Wunder, doch werden die seltener - dagegen mehren sich die Versuche der Offiziellen, jede Schuld am Chaos zu leugnen

Von Wolfgang Koydl

Istanbul, 22. August - Manchmal braucht man nicht viel Platz, um eine Tragödie zu beschreiben. Manchmal genügen nur drei knappe Zeilen, und schon öffnet sich ein Abgrund menschlichen Leids: "Buket Ertürk, Adapazari. Bitte melden. Nilgün Hanim und Kadir Bey sind tot, der Bruder liegt noch unter den Trümmern", steht da. Oder noch knapper: Osman Emel, Ebru Pakol, Izmit. Sie sind tot." Dutzende solcher Botschaften veröffentlicht die Istanbuler Tageszeitung Hürriyet jeden Tag, gleich neben den Opferlisten, die kleingedruckt fast die ganze Zeitungsseite einnehmen. Es sind Nachrichten des Schreckens und des Todes; aber es sind auch Botschaften von Überlebenden des Erdbebens, die nach dem Vater, der Frau, den Kindern suchen. Manchmal sind es gute Nachrichten, wie die von Firat Selcuk-Fatos aus Yalova: "Sie leben, das Haus steht. Bitte melden." Aber nicht immer wird es darauf Antworten geben, weil es die allzu oft nicht mehr gibt, an die diese Meldungen gerichtet sind.

Die Sektoren der Trauer

Zu groß ist das Ausmaß des Schreckens und der Zerstörung des katastrophalen Erdbebens vom Dienstag, zu hoch ist die Zahl der Opfer. Noch sollen Zehntausende unter den Trümmern liegen - erschlagen oder zerquetscht. Familien wurden zerrissen: Vater und Mutter starben in den eingestürzten Häusern, aber ihre Kinder wurden gerettet. Freunde waren zu Besuch in Gölcük, Izmit oder Adapazari, als die Erde bebte. Niemand hat von ihnen gehört seit dem Unglückstag, und das furchtbare Warten wird allmählich schreckliche Gewissheit: Der Vorrat an Wundern geht zur Neige, kaum jemand kann so lange eingeklemmt unter Betonbrocken überleben.

In der grausam lakonischen Sprache professioneller Helfer wird das nüchtern so ausgedrückt: "Durchsucht ohne weitere Überlebende." Mit diesem Etikett hat das Katastrophenhilfswerk der Vereinten Nationen (UNDAC) bereits einen Sektor des Katastrophengebietes belegt. Man nimmt an, dass schon bald in zwei weitere Sektoren die Bulldozer einrücken dürfen, um die Trümmer beiseite zu räumen, weil sich auch hier alle Hoffnungen auf ein Überleben zerschlagen haben. Dann bleiben noch sechs Sektoren; UNDAC hat die Erdbebenzone in neun Gebiete geteilt.

Mit Hilfe der Rettungsteams aus aller Welt konnten die Bergungsanstrengungen mittlerweile wenigstens koordiniert und besser organisiert werden. Tagelang hatte Chaos geherrscht, weil die staatlichen türkischen Stellen noch nicht einmal wussten, welches Team wo eingesetzt werden sollte. Oft kam es zu bizarr tragischen Szenen. Ein israelisches Team beispielsweise musste sich radebrechend bei Passanten durchfragen, weil kein Polizist, kein Vertreter des türkischen Zivilschutzes und kein Soldat zur Stelle waren, um ihnen den Weg zu einem zerstörten Stadtteil zu weisen. Manchmal saßen die Retter stundenlang am Atatürk-Flughafen in Istanbul fest, bevor sie an ihre Einsatzorte gelangten. Eine portugiesische Gruppe wartete vergeblich darauf, abgeholt zu werden. Ein deutsches Team verlor kostbare Zeit, weil Teile ihrer Ausrüstung und drei Spürhunde auf dem Weg vom Flugzeug zur Ankunftshalle verloren gingen.

Meist sind es ausländische Rettungsmannschaften, denen in den letzten Tagen wundersame Bergungen gelangen: Ungarn, Israelis, Deutsche, Japaner, Schweizer, Franzosen. Sie sind Profis, hervorragend ausgebildet und ausgerüstet. Viele Türken fragen sich mittlerweile, warum der eigene Zivilschutz derart versagt hat - und dies in einem Land, dessen Territorium zu 95 Prozent erdbebengefährdet ist. Wo keine ausländischen Helfer waren, halfen sich die Menschen selber. Noch am Wochenende wurde in Gölcük ein Mann lebend aus dem Schutt hervorgezogen. Seine eigene Familie hatte ihn mit bloßen Händen freigegraben. Schwerfällig sind die Hilfsbemühungen des türkischen Staates angelaufen. Ankara hat alle privaten Lastwagen und Baumaschinen für den Bergungseinsatz requiriert - vier Tage nach dem Beben. Zum Vergleich: Im Kriegsfall werden private Fahrzeuge und Geräte schon in den ersten Stunden nach Ausbruch von Kampfhandlungen von den Streitkräften übernommen.

Erst am fünften Tag nach der Katastrophe wandte sich Regierungschef Bülent Ecevit in einer in seinem Amtszimmer aufgezeichneten Ansprache an sein erschöpftes, trauerndes und zorniges Volk. Steif saß er an seinem Schreibtisch, so steif wie die Bleistifte vor ihm. Steif und gezwungen kamen die Worte über seine Lippen, die er von kleinen Notizzetteln ablesen musste. Meist waren es Zahlen, die Bülent Ecevit vortrug, als sei er der schwarz gewandete Buchhalter des Bebens: Penibel listete er die Zahlen der Toten, der Verletzten, der Obdachlosen und der zerstörten Gebäude auf. Hier sprach kein Trauernder, sondern bestenfalls ein distanzierter Bestattungsunternehmer. Worte des Bedauerns jedenfalls fand Ecevit kaum. Vielmehr waren es Worte der Rechtfertigung. "Jede Regierung wäre damit überfordert, angesichts eines derart zerstörerischen Erdbebens in einem so dicht besiedelten Gebiet schnell zu handeln, um die Zahl der Todesopfer zu begrenzen", lautete der mühsam gedrechselte Schlüsselsatz des Regierungschefs.

Schuld hatten - wieder einmal - die Massenmedien, weil sie "negativ und unverantwortlich" über die Fehler der Regierung berichtet hätten, monierte ein säuerlicher Ecevit. Sicher, kein Staat der Welt könnte eine solche Katastrophe, wie sie die Türkei heimgesucht hat, alleine bewältigen. Aber das erklärt nicht die eklatanten Pannen, die den türkischen Behörden unterliefen. So ließ sich beispielsweise die Regierung bis Sonntag Zeit, um zu einer Krisensitzung zusammenzutreten. Zuvor waren lediglich einzelne Abgeordnete in ihre zerstörten Wahlkreise gereist, und hatten sich auf Trümmerbergen filmen und fotografieren lassen, bevor sie ins sichere Ankara zurückkehrten.

Die Wut der Türken über ihren Staat und ihre Regierung konnte Ecevit mit seiner Ansprache kaum dämpfen. Die Menschen nehmen inzwischen einzelne Minister ins Visier ihrer Kritik. Zeitungen veröffentlichten Bilder eines in sich zusammengesackten Wohnblocks. Bauherr soll ein Verwandter von Arbeitsminister Yasar Okuyan sein. Ex-Premier Mesut Yilmaz wird beschuldigt, indirekt für den Großbrand in der staatlichen Erdölraffinerie verantwortlich zu sein. Denn er habe die unfähigen Manager, die sich tagelang über die richtige Art der Brandbekämpfung stritten, ernannt - nicht nach ihrer Qualifikation, sondern aus parteipolitischer Gefälligkeit.

Unterdessen hat die Regierung in Ankara offenbar die ersten Sündenböcke gefunden: Die Gouverneure der besonders hart getroffenen Provinzen Sakarya, Yalova und Kocaeli mit der Hauptstadt Izmit wurden türkischen Presseberichten zufolge entlassen. Wie die Staatsmacht den Vertrauensverlust wiederherzustellen versucht, deutete Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu an: "Die Regierung hat beschlossen, dass sie die Folgen des Erdbebens am besten dadurch in den Griff bekommt, indem sie sich selbst und ihren Gouverneuren zusätzliche Vollmachten verleiht."

Pfiffe für den Präsidenten

Mancherorts wird bereits der Rücktritt von Staatspräsident Süleyman Demirel gefordert. Denn er ist das personifizierte Symbol der Staatsmacht, die nun so kläglich versagt hat. Hinzu kommt, dass der Präsident auch persönlich keine gute Figur gemacht hat. Auf seinen Besuchen in der Katastrophenregion wird er immer wieder ausgepfiffen und ausgebuht. Peinlich genau wurde etwa registriert, dass seine Limousine Rettungsfahrzeugen den Weg versperrte, ohne dass es ihn selbst groß zu stören schien.

In der Kleinstadt Düzce drang eine empörte Frau bis zu seinem Wagen vor und beschimpfte ihn durch das geöffnete Fenster. Zunächst drehte Demirel das Gesicht leicht angewidert zur Seite, doch schließlich stieg er aus, um sich dem Zorn der Frau zu stellen. Sie beklagte sich, dass in ihrem Stadtteil nur die vom Staat gebauten Häuser eingestürzt seien. Demirel hörte sich die Tirade kurz an und erklärte sich dann für unzuständig. An dem Erdbeben, beschied er die Frau, trage der Staat keine Schuld: Das sei von Gott geschickt worden.