Süddeutsche Zeitung 23.8.1999

Bonn erwägt Verzicht auf Visumspflicht

Nürnberg - Die ersten Erdbebenopfer aus der Türkei sind in Deutschland eingetroffen. Nach Angaben des ADAC landete eine gecharterte Boeing 737 mit 90 zum Teil schwer Verletzten an Bord am Sonntag um 1.00 Uhr auf dem Nürnberger Flughafen. ADAC-Ambulanzjets brachten zudem insgesamt zwölf Opfer von Istanbul nach Deutschland. Eine Frau sei frisch an der Milz operiert gewesen; andere Patienten hätten durch das Beben Kopfverletzungen und Quetschungen erlitten, teilte Automobilclub-Sprecher Ulf Rasch mit. Die meisten Opfer hatten in der Türkei Urlaub gemacht oder Verwandte besucht; viele hätten Angehörige verloren. "Die Leute standen teilweise unter Schock", sagte Rasch.

Nach Angaben des Arbeiter-Samariter-Bundes warten auf dem Flughafen in Istanbul noch Tausende auf ihre Ausreise. Die Bundesregierung hat bereits angekündigt, die Einreise von Erdbebenopfern nach Deutschland zu erleichtern. Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Claus Henning Schapper, sagte: "Wir können uns vorstellen, dass Kinder nach Deutschland kommen, ohne dass sie ein Visum beantragen müssen." Auch bei anderen nahen Verwandten solle kein Visum verlangt werden.

Am heutigen Montag will der Bund das weitere Vorgehen mit den Ländern beraten. Die Regierung hat nach Angaben des Auswärtigen Amtes bisher über drei Millionen Mark zur Verfügung gestellt. Hinzu kämen weitere Hilfeleistungen. So seien zwei Großraumtransporter zur Bekämpfung des Raffineriebrandes zur Verfügung gestellt worden. Außenminister Joschka Fischer (Grüne) stehe im ständigen Kontakt mit der türkischen Seite. Nach Angaben der deutschen Botschaft in Ankara sind bei dem Beben mindestens sieben Deutsche ums Leben gekommen. Viele der Opfer seien deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft.

Unterdessen hat die türkische Gemeinde in Deutschland an Bundesregierung, Hilfsorganisationen, Arbeitgeber und Medien appelliert, den Erdbebenopfern zu helfen. Die bevölkerungsreichste Industrieregion des Landes erinnere in einigen Städten an den Zustand, in dem sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg befunden habe, heißt es in einer Mitteilung der Türkischen Gemeinde. Nach Ansicht des Türkischen Bundes in Deutschland reicht die bisher von Bonn zugesagte Hilfe nicht aus. "Die Bevölkerung ist hilfsbereiter als die Regierung", sagte der Geschäftsführer des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, Kenan Kolat. (SZ)