Frankfurter Rundschau 21.8.1999

Ein wichtiger Nerv der türkischen Wirtschaft ist lahm gelegt

Gebiet um Izmit beherbergt Großteil der Industrie / Erdbebenkatastrophe wirft Sanierungsversuche der Regierung zurück

Von Gerd Höhler Auf der Istiklal Caddesi, eine der lebhaftesten Einkaufsstraßen Istanbuls, geht das Leben scheinbar seinen gewohnten Gang. Normales Treiben herrscht auch auf der Galatabrücke, an deren Geländer die Angler ihre Köder in die trüben Fluten des Goldenen Horns werfen. Im Zentrum der Zwölfmillionenstadt Istanbul hat das schwere Erdbeben vom vergangenen Dienstag, das tausende Menschen tötete, keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Vor der Hagia Sofia und der Blauen Moschee knipsen die japanischen Touristen fröhlich ihre Erinnerungsfotos. Die historischen Bauwerke sind unversehrt, im Gegensatz zu Dutzenden von Mietshäusern in den Außenbezirken, die das Beben binnen weniger Sekunden in Schutthaufen verwandelte. Offenbar baute man vor 1500 Jahren auch ohne Beton und Stahl solider als heute. Eine Rauchfahne, die aus Osten über die Stadt zieht, kündet von der Katastrophe. Bei Izmit, 100 Kilometer von Istanbul entfernt, steht seit vier Tagen die größte Ölraffinerie der Türkei in Flammen. Die hoch lodernden Feuerbälle und der gen Himmel steigende Qualm symbolisieren das mit dem Erdbeben hereingebrochene ökonomische Desaster. Die von der Katastrophe heimgesuchten sieben Provinzen im Nordwesten umfassen gut 20 000 Quadratkilometer und sind dichtbesiedelt. Knapp 15 Millionen Menschen leben und arbeiten hier, fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Das Gebiet ist auch - oder muss man sagen: war - die reichste Region des Landes mit einem Anteil von mehr als einem Drittel am Bruttoinlandsprodukt. In Izmit, dem Epizentrum des Bebens, schlug das Herz der türkischen Wirtschaft. Zwar liegt das alles nun nicht in Schutt und Asche. Istanbul selbst trägt immerhin 22,5 Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes bei, und die Stadt funktioniert trotz der Schäden weitgehend normal. Aber einige Schlüsselunternehmen in der Umgebung sind hart getroffen. Die Reifenfabriken von Goodyear, Bridgestone und Pirelli, Montagewerke von Renault, Honda, Hyundai, Fiat, Ford und Toyota, Betriebe von Mannesmann, Bayer und Siemens sind mittelbar oder unmittelbar von der Katastrophe betroffen. Der Kleinbushersteller Otokar, bei dem die beliebten Sammeltaxis von den Bändern rollen, meldet erhebliche Schäden an den Produktionsanlagen und läßt die Arbeit vorerst ruhen. Auch bei der Kunstfaserfirma Aksa, dem Verpackungsspezialisten Kartonsan und dem Fertigbetonlieferanten Bolu Cimento läuft im Augenblick nichts. Die Reifenfabrik Brisa in Izmit, der Elektronikproduzent Ihlas Ev Aletleri und die Haushaltsgerätefirma Arcelik haben die Maschinen ebenfalls angehalten - wegen Erdbebenschäden, Nachschubproblemen und weil sie der Belegschaft Gelegenheit geben wollen, sich um Angehörige zu kümmern. Einige werden am Montag oder Dienstag die Produktion wieder aufnehmen. Dann soll auch die Istanbuler Börse, die den Handel am Morgen nach dem Beben einstellte, wieder öffnen. Was dann mit den Aktienkursen passiert, wagt sich noch niemand vorzustellen. Die Staatsholding Tüpras, der die in Izmit brennende Raffinerie gehört, ist zwar bisher nur zu etwa vier Prozent privatisiert, aber ein Schwergewicht im Istanbuler Aktienindex. Mit einem Umsatz von 3,7 Milliarden Dollar war Tüpras 1998 immerhin das größte türkische Unternehmen. Die Anlagen bei Izmit stellten 41 Prozent der Raffineriekapazitäten des Landes dar und produzierten 36 Prozent des türkischen Bedarfs an Mineralölerzeugnissen. Vor kurzem noch wurden rund 600 Millionen Dollar in die Modernisierung der 1961 gebauten Raffinerie investiert, die 1200 Menschen beschäftigt. Tüpras sollte im ersten Quartal des nächsten Jahres zu weiteren 20 Prozent privatisiert werden. Davon versprach sich die Regierung Einnahmen von rund einer Milliarde Dollar. Diese Pläne dürften nun kaum zu realisieren sein. Die Bebenkatastrophe trifft die Türkei in einer ohnehin schwierigen Zeit. Ankara war gerade dabei, das explodierende Etatdefizit, acht Milliarden Dollar 1998, voraussichtlich 20 Milliarden in diesem Jahr, zu reduzieren. Einen strikten Sparkurs fordert nicht zuletzt der Internationale Währungsfonds (IWF), der mit einem Kredit von rund fünf Milliarden Dollar beistehen will. Aber nun wirft die schwerste Katastrophe in der 76-Jährigen Geschichte der türkischen Republik alle Einsparungspläne über den Haufen. Zudem dürfte das Desaster das Wirtschaftswachstum, ohnehin für 1999 nach jüngsten Schätzungen nur auf magere 0,5 Prozent veranschlagt, ins Minus drücken. Die Zeitung Finansal Forum beziffert die unmittelbaren Erdbebenschäden für die Wirtschaft des Landes auf 25 Milliarden Dollar. Darin sind die Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Wohnungen aber noch nicht enthalten. Erkut Yucaoglu, der Vorsitzende des Industriellenverbandes Tüsiad, veranschlagt die Schadenssumme sogar auf 40 Milliarden Dollar.