Süddeutsche Zeitung 21.8.1999

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Vater Staat lässt seine Kinder allein

Nach dem Erdbeben erschüttert in der Türkei das Versagen der Regierung die Pfeiler der Macht

Von Wolfgang Koydl

Istanbul, 20. August - Es gibt wohl kein zweites Land auf der Welt, in dem Eltern ihren Sohn auf den Namen "Republik" oder "Staat" taufen lassen. Sogar in der Sowjetunion ließen es auch linientreue Parteigenossen mit dem vergleichsweise harmlosen Traktor für Jungen oder der Elektrifikazija für Mädchen bewenden. Doch in der Türkei ist es nicht ungewöhnlich, einem Cumhur (Republik) oder Devlet (Staat) zu begegnen. Die derzeitige Regierung ist das beste Beispiel: Der Vizepremier heißt Devlet Bahceli, der Energieminister Cumhur Ersümer. Die Namenswahl erlaubt Rückschlüsse auf die Bedeutung, welche der Staat in der Türkei genießt, und die lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen: Der Staat ist allgegenwärtig, mächtig, verehrungswürdig, heilig. Er ist die höchste Instanz, gegen die kein Widerspruch möglich ist. Er ist ein wahrhaft gestrenger, autoritärer Vater. Doch jetzt hat er versagt, ausgerechnet in der Stunde der Not, nach dem Jahrhundertbeben von Izmit. Nun proben seine Kinder den Aufstand. "Der Staat ist überflüssig", schrieb sogar die ansonsten wahrlich staatstragende Massenzeitung Hürriyet über das Versagen der staatlichen Organe bei den Bergungs- und Rettungsarbeiten. "Das Volk hat alles selber übernommen", fuhr das Blatt fort und drückte damit aus, was viele Menschen zwischen Edirne und Erzurum in diesen schweren, leiderfüllten Tagen sagen: "Wo warst du, Staat, als wir dich wirklich brauchten?" Noch weiter in ihrer Verdammung ging die couragierte Kolumnistin Gülay Göktürk vom Konkurrenzblatt Sabah. "Der Staat ist in seiner Heiligkeit so von sich eingenommen, dass er nur noch sich selbst sehen kann", schrieb sie, nachdem sie im Fettdruck angekündigt hatte, den "Verrat" des Staates am Volk lauthals anzuprangern. In der Tat hat das Erdbeben nicht nur Gebäude dem Erdboden gleich gemacht, sondern auch die Grundpfeiler des türkischen Staates nachhaltig erschüttert. Wie bodenlos die Enttäuschung und der Zorn der türkischen Bürger sind, kann man nur ermessen, wenn man weiß, welche Rolle der Staat sich hier anmaßt. Das beginnt bei seinem Namen: Mit dem türkischen "devlet" verbindet sich eine über "Staat" weit hinausgehende Bedeutung. "Devlet" verkörpert eine beschützende, alles bezwingende Macht, der man sich unterzuordnen hat. Der deutsche Begriff vom "Vater Staat" trifft nirgends besser zu als in der Türkei. Das Land erinnert von Aufbau und Struktur her an eine patriarchalische türkische Familie. An der Spitze steht unangefochten das männliche Familienoberhaupt, das bedingungslose Loyalität einfordert. Kritik an der Familie beziehungsweise dem Staat gegenüber Außenstehenden kommt Hochverrat gleich. Nur der Vater darf züchtigen oder belohnen. Wer sich außerhalb von Familie oder Staat stellt, wird ausgestoßen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass der Gründer der türkischen Republik den Beinamen Atatürk, "Vater der Türken", erhielt, und dass der jeweilige Staatspräsident der Türkei in der Umgangssprache immer der "Baba", der Papa, ist. Deshalb steht jetzt auch nicht Ministerpräsident Bülent Ecevit im Mittelpunkt der Kritik, sondern Staatschef Süleyman Demirel. Ecevit - obschon persönlich integer - gilt als Vertreter der unfähigen, korrupten und eigennützigen Politikerkaste, von der kein Türke mehr irgendetwas Positives erwartet. Demirel hingegen ist das Symbol der Staatsmacht schlechthin. Normalerweise steht der türkische Staatspräsident jenseits jeglicher Kritik. Angriffe auf seine Person erfüllen rasch den Straftatbestand der Majestätsbeleidigung, schließlich repräsentiert er Seine Heiligkeit, den unantastbaren Staat. Doch was noch Anfang dieser Woche undenkbar erschien, ist nun eingetroffen. Bei seinem Besuch in der vom Erdbeben schwer in Mitleidenschaft gezogenen westanatolischen Stadt Adapazari wurde der "Baba" von den Menschen ausgepfiffen. Sie warfen ihm unter anderem vor, dass er sich sehr viel Zeit damit gelassen hatte, seinen Untertanen Mut und Trost zuzusprechen. Zuvor hatte Demirel in Begleitung des Generalstabschefs lediglich die verwüstete Marine-Basis Gölkük besucht, was ihm von vielen Türken verübelt worden war. "Warum kommt er nicht zu uns, sind wir denn keine Menschen", fragt ein erschöpfter Helfer aus dem Erdbebengebiet einen Fernseh-Journalisten. Konkrete politische Folgen wird der ohnmächtige Zorn auf den Staat indes vermutlich nicht haben. Die Situation ist durchaus mit jener in Ägypten vergleichbar, wo bei dem schweren Erdbeben vor einigen Jahren staatliche Stellen ebenfalls versagten und die Bevölkerung vor Wut kochte. Doch es blieb bei leeren Beschimpfungen. Auch bei den Türken dürfte letztlich die Angst vor der Strafe des strengen Staates obsiegen. Staatspräsident Süleyman Demirel jedenfalls scheint seine Landsleute gut zu kennen. Man könne die armen Leute ja verstehen mit ihrem Ärger, sagte er dem US-Fernsehsender CNN. Aber der werde sich schon wieder legen. So manchen Türken mag dieser huldvoll-herablassende Auftritt an eine andere Passage in dem Kommentar von Gülay Göktürk erinnert haben: "Weil der Staat immer nur aus großer Höhe auf uns herabblickt, sieht er keine Menschen, sondern nur Ameisen, Millionen von Ameisen."