Der Standard (Wien), 20.8.1999

Zweierlei Sicherheit

von Brigitte Voykowitsch Geht es um Sicherheitsfragen, ist auf die türkische Regierung gemeinhin Verlass. Missliebige Parteien, gar zu engagierte Menschenrechtsaktivisten und erst recht die Kurden als Volksgruppe können davon ein Lied singen. Militär und Polizei sind promptest zur Stelle, wenn die Regierung Gefahr für die große türkische Nation zu wittern glaubt. Doch Sicherheit ist nicht gleich Sicherheit. Hat schon die alltägliche, lebens- und überlebensrelevante Sicherheit des Durchschnittstürken im Staatskonzept offenkundig kaum Relevanz, so versagt das System im Katastrophenfall erst recht.

Natürlich hätte ein Erdbeben wie das jüngste in der Nordwesttürkei überall massive Schäden verursacht und wird für immer Spekulation bleiben, um wieviel geringer die Zerstörungen - und damit auch die Opferzahlen - gewesen wären, wenn ... Wenn Häuser nicht so elendig schlecht gebaut gewesen wären und Stadtverwaltungen nur irgendwelche Vorkehrungen getroffen hätten. Dass diese kriminelle Fahrlässigkeit aber das Ausmaß der Katastrophe entscheidend verschlimmerte, steht außer Zweifel.

Einmal wäre der Fall eingetreten, wo wohl alle betroffenen Bewohner der Türkei die Sicherheitskräfte willkommen geheißen hätten, wären sie nur raschestens gekommen: mit Gerätschaften, um Opfer zu bergen, mit Trinkwasser und Lebensmitteln und wes immer es in der Notsituation bedurfte. Stattdessen mussten Menschen vielerorts mit bloßen Händen nach Vermissten graben, war vielfach staatliche Hilfe weit und breit nicht in Sicht. Zerstörte Kommunikationsmittel, kaputte Straßen? Immerhin, die internationalen Helfer scheiterten nicht an diesen Hürden. Selbst Athen, dem sonst eher weniger am Wohlbefinden des Lieblingsfeindes gelegen ist, schob derartige Ressentiments für einmal beiseite. Von Ankara dagegen fühlt sich, wie eine türkische Zeitung titelte, "das Volk verlassen".