Süddeutsche Zeitung 19.8.1999

Beben des Zorns

Türkei: In die Trauer mischt sich Empörung

Im Katastrophengebiet ist unübersehbar, dass nicht allein die Natur das Unheil brachte

Von Wolfgang Koydl

Istanbul, 18. August - Besonders schick war der schäbige Ohrensessel bestimmt nie, und so, wie er jetzt am Rande der Schnellstraße steht, sieht er aus, als ob er auf die Sperrmüllabfuhr warten würde. Fleckig und verschossen ist das Fauteuil, und zudem über und über mit feinem Mörtelstaub bedeckt. Auf dem Boden verstreut liegen Kleidungsstücke: zwei Popelinhosen, ein paar Kinderjeans und eine rosafarbene Rüschenbluse.

Das Sitzmöbel und die Kleidung sind der einzige Besitz, der Deniz Yildirim noch geblieben ist. Als ob er seinen Anspruch darauf bekräftigen müsste, sitzt er in dem Sessel und sieht mit matten Augen dem stockenden Straßenverkehr zu, der von Bergungsfahrzeugen und Gaffern behindert wird. Einen anderen Platz hat Yildirim zur Zeit nicht auf dieser Welt, seitdem das Erdbeben seine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Istanbuler Industrievorstadt Avcilar zerstört hat.

Yildirim hat gleich da hinten gewohnt, an der Straße, an der jetzt sein Sessel steht. Seine Wohnung lag im hinteren Teil eines vierstöckigen Wohnblocks, in der obersten Etage. Unter der Wucht des ersten Erdstoßes ist das Gebäude einfach nach vorne eingesunken und macht gleichsam einen Knicks zur Schnellstraße hin. Genau das hat das Leben von Yildirim, seiner Frau und seinen beiden Jungen gerettet. Denn als der Inhalt der Wohnung einfach nach vorne wegrutschte, konnten sie sich gerade noch festklammern.

Bakschisch statt Beton

Um zu erkennen, wie viel Glück im Unglück Yildirim hatte, muss er nur auf die andere Straßenseite blicken. Dort stand bis Dienstagfrüh um drei ein siebenstöckiges Haus. Es war ein ebenso schnell wie schlecht hochgezogenes Gebäude, wie sie zu Hunderttausenden überall in der Türkei anzutreffen sind: Betonplatte, Wohnung, Betonplatte, Wohnung, Betonplatte. Nun liegt Betonplatte auf Betonplatte, und dieser Schuttberg hat nur noch die Höhe eines einstöckigen Hauses. Was einst zwischen den Platten lebte und atmete, wurde zerquetscht. Ein Dutzend Tote haben die Retter hier bisher geborgen, und jeder weiß, dass es noch viel mehr sein werden.

Ob in Avcilar oder Izmit, in Adapazari oder Gölcük - das Jahrhundertbeben scheint willkürlich und ungerecht zugeschlagen zu haben, denn es gibt keine großflächigen Verwüstungen. Vielmehr scheint hier jemand nach einem Plan vorgegangen zu sein und ganz gezielt ganz bestimmte Häuser zertrümmert zu haben. Für Ülkü Özer von der türkischen Architektenkammer ist das keine Überraschung: 'Das Erdbeben hat sich die schlechten Gebäude herausgepickt', sagte sie der Tageszeitung Milliyet. Die stabil errichteten Bauwerke wurden meist verschont.

Tatsächlich richtet sich der Zorn der Überlebenden in erster Linie gegen skrupellose und gewinnsüchtige Bauunternehmer, die für immer mehr Geld immer schlechtere Gebäude erstellen. In vielen Städten fiel es den Bewohnern ganz deutlich auf, dass vor allem Häuser jüngeren Baudatums einfach in sich zusammensackten, während alte Gebäude stehen blieben.

Die Tageszeitung Hürriyet, die als Zeichen der Trauer mit einem schwarzen und nicht mit dem vertrauten roten Namenszug erschien, machte sich zum Sprecher des Volkes: 'Mörder', titelte das Blatt und erinnerte daran, dass es nach dem Erdbeben von Adana im vergangenen Jahr Behörden und Unternehmer schon das erste Mal gewarnt hatte. 'Viele Menschen, die damals nicht hören wollten, sind nun verantwortlich für die Katastrophe', schrieb Hürriyet.

Doch die Warnung der Zeitung wäre ohnehin zu spät gekommen. Zudem ist die türkische Bauindustrie eine lukrative Branche, an der die größten Unternehmer ebenso mitverdienen wie manche Politiker. Im ganzen Land legen die teils fertig gestellten, teils unvollendeten Gebäude Zeugnis für ein nicht abklingendes Baufieber ab. Die Baufirmen machen ihrerseits die Politiker und die Behörden verantwortlich. Nicht ohne Grund: In der Türkei gibt es zwar vermutlich mehr Bauvorschriften als in jedem anderen Land der Welt; aber es gibt keinerlei Bauaufsicht. Ein Bakschisch hier, ein Schmiergeld dort, und schon stört kein Beamter die Arbeit.

Immer lauter artikulieren die Überlebenden aber auch ihren Zorn darüber, wie schwerfällig und dilettantisch Staat und städtische Behörden mit den Rettungsarbeiten begonnen haben. In Karamürsel etwa, einem schwer zerstörten Badeort südlich von Izmit, ist auch 36 Stunden nach dem Beben noch kein schweres Bergungsgerät eingetroffen. 'Die Leute graben mit bloßen Händen, bis ihnen das Blut über die Arme rinnt', berichtet ein Augenzeuge. 'Aber wenn sich ein Vertreter der Stadtverwaltung überhaupt mal sehen lässt, dreht er sich auf dem Absatz um, wenn ihn die Menschen um Bagger, Kräne oder Raupen bitten.'

Aber nicht nur Bergungsmaschinen fehlen. Noch immer gibt es keinen Strom, kein Wasser und kein Brot in den Katastrophengebieten. Krankenhäuser können den Ansturm nicht bewältigen und sind dazu übergegangen, ihre Patienten notdürftig im Freien zu versorgen. In Karamürsel entging ein städtischer Beamter knapp der Lynchjustiz, der in Anzug und Krawatte mit einem leeren Lastwagen durch die Straßen gefahren war und über Lautsprecher verkündet hatte, dass an einem entlegenen Ort Brot verteilt werden würde. 'Und warum fährst du hier mit deinem schönen leeren Laster spazieren, anstatt das Brot hierher zu bringen?', fauchten ihn empörte Passanten an.

Die Menschen richten sich mittlerweile auf die dritte Nacht unter freiem Himmel ein, was wegen der hochsommerlichen Temperaturen von weit mehr als 30 Grad kein Problem ist. Parks und Grünflächen haben sich in Zeltlager verwandelt. Selbst in jenen Teilen Istanbuls, die vom Beben weitgehend verschont wurden, verbrachten viele Menschen die vergangene Nacht im Freien. Die anhaltende Hitze beginnt indes den Verantwortlichen Sorgen zu machen. Sie befürchten nun den Ausbruch von Seuchen.

Angst vor der Explosion

Nicht viel anders als in Karamürsel sieht es in Izmit aus, der am schwersten verwüsteten Stadt. Viele Zufahrtsstraßen sind gesperrt. Vor allem die Autobahn aus Istanbul kann kaum noch passiert werden. Sie führt direkt an der größten Erdölraffinerie des Landes vorbei, die seit dem Beben in hellen Flammen steht. Dicke Rauchwolken stehen über dem Gelände. Nicht einmal Spezialflugzeugen aus Frankreich und Deutschland ist es bislang gelungen, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Das Feuer bedroht inzwischen mehrere mit Gas gefüllte Tanks. Sollten sie explodieren, dann wäre die Straßenverbindung nach Istanbul ganz abgerissen.

Schon jetzt ist kaum abzuschätzen, welchen volkswirtschaftlichen Schaden das Beben angerichtet hat, denn die Erdstöße trafen den wohlhabendsten und am dichtesten besiedelten Teil der Türkei. In Istanbul, Izmit und Bursa haben ausländische Firmen ihre zum Teil hochmodernen Produktionsanlagen. Izmit rühmt sich des höchsten Durchschnittsverdienstes im ganzen Land. Die Marmara-Region war die Wirtschaftslokomotive des Landes gewesen. Die steht nun erst einmal still.