Frankfurter Rundschau 19.8.1999

Nachrichten Extra: Das Erdbeben

Ein "denkbar geeigneter Standort" - für den Super-Gau?

Die Türkei will ihr erstes Atomkraftwerk ausgerechnet in einem Erdbebengebiet bauen / Geologen und Umweltschützer warnen

Von Gerd Höhler (Athen)

Sommer über dem östlichen Mittelmeer. Während sich die noch ahnungslosen Urlauber an den Stränden in der Sonne aalen, trägt ein kräftiger Wind die radioaktiven Partikel über die türkische Millionenstadt Adana und den Golf von Iskenderun hinweg. Nach 36 Stunden hat die Wolke Syrien und große Teile Libanons erreicht. 72 Stunden später bedeckt sie auch Zypern. Vielleicht geht über der Insel gerade ein Sommergewitter nieder. Dann werden die radioaktiven Partikel geradewegs auf die Felder und ins Grundwasser befördert. Oder es ist Winter. Dann wird die nukleare Wolke wegen der zu dieser Jahreszeit vorherrschenden Luftströmungen binnen 36 Stunden die Ägäisinseln, das griechische Festland, wenig später auch Bulgarien, Albanien und Teile Italiens erreicht haben.

Diese Szenarien stammen aus einem Computermodell der Universität Athen. Die griechischen Forscher simulierten anhand der bekannten klimatischen Bedingungen, welche Folgen ein Unfall im Atomkraftwerk von Akkuyu an der türkischen Mittelmeerküste haben würde.

Noch gibt es den nuklearen Strommeiler nicht. Aber Ankara will das lange geplante Vorhaben nun endlich verwirklichen. Trotz der Proteste von Umwelt-Organisationen und erheblicher Einwände vieler Fachleute soll das Atomkraftwerk gebaut werden - unweit einer aktiven Erdbeben-Spalte. Nach der jüngsten verheerenden Erdbebenkatastrophe dürfte der Widerstand gegen das Projekt weiter wachsen. Anhaltspunkte dafür, dass Ankara das riskante Vorhaben nun noch einmal überdenkt, gibt es bisher aber nicht.

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert wird das Projekt diskutiert. Es dürfe nicht länger aufgeschoben werden, meinte kürzlich Energieminister Cumhur Ersumer. Ausgeschrieben wurde der Kraftwerksbau bereits drei Mal, zuletzt Ende 1997. Die Realisierung scheiterte bisher vor allem an Finanzierungsproblemen, aber auch an massiven Protesten der Bevölkerung. Am 15. Oktober, so rief der Minister nun in Erinnerung, läuft die Frist ab, binnen derer die am Bau des Kernkraftwerks interessierten Firmen an ihre Angebote gebunden sind. Wenn man diesen Termin verstreichen lasse, ohne den Auftrag zu vergeben, entstehe unweigerlich der Eindruck, dass die Türkei die Atomenergie für immer abgeschrieben habe. Bis Mitte Oktober will Minister Ersumer deshalb das Vorhaben durchs Kabinett bringen und den Bauauftrag erteilen. Im Jahr 2006 könnte die Stromfabrik ans Netz gehen. Um das Projekt bewerben sich der US-Konzern Westinghouse, die kanadische Firma AECL und das deutsch-französische Konsortium Nuclear Power International (NPI). Auf deutscher Seite sind an dieser Gruppe Siemens und die Essener Hochtief AG beteiligt.

Die Befürworter des Projekts, allen voran die staatlichen türkischen Elektrizitätswerke Teas, rechtfertigen den geplanten Bau mit dem ständig wachsenden Strombedarf. Wenn die Lichter in der Türkei nicht ausgehen sollen, müßten jedes Jahr zusätzliche Kraftwerkskapazitäten von rund 2500 Megawatt bereitgestellt werden, heißt es. Zur Stromversorgung des Landes wird das auf rund 1400 Megawatt ausgelegte Kernkraftwerk allerdings nur vergleichsweise bescheidene drei Prozent beisteuern. Überdies rechnet die Umweltorganisation Greenpeace vor, dass die angebliche Energielücke gar nicht existiert. Mit Einsparungen, einer Modernisierung des Leitungsnetzes und besserer Wartung der bestehenden Kraftwerke lasse sich die Elektrizitätsproduktion binnen kurzer Zeit um rund 25 Prozent steigern - eine Rechnung, der sich auch die Kammer der türkischen Elektroingenieure (EMO) anschließt. Das vorhandene Potential an Wasserkraft wird in der Türkei überdies erst zu rund 30 Prozent genutzt, von anderen erneuerbaren Energiequellen wie Sonne, Wind und Erdwärme ganz zu schweigen. Warum will man da fast acht Milliarden Mark in ein Kernkraftwerk investieren?

Bei einigen Nachbarn der Türkei, in Griechenland, Zypern, Iran und Syrien, glaubt man die Antwort zu kennen. Der Türkei gehe es nur vordergründig um das Kraftwerk; die eigentliche Absicht sei, auf diesem Weg Zugang zu militärisch nutzbarer Nukleartechnologie zu bekommen - ein Verdacht, den die Regierung in Ankara und die türkischen Militärs allerdings weit von sich weisen.

Doch selbst wenn sich diese Sorge als unbegründet erweisen sollte, birgt der geplante Atommeiler unkalkulierbare Risiken. Akkuyu nämlich liegt in einer stark erdbebengefährdeten Region. Im vergangenen Jahr bebte in der Nähe der Stadt Ceyhan, 170 Kilometer nordöstlich von Akkuyu, die Erde. 145 Menschen starben, mehr als 1000 wurden verletzt, Zehntausende obdachlos. Noch näher am geplanten Standort des Kernkraftwerks, nämlich nur 20 Kilometer südöstlich der Bucht von Akkuyu, verläuft eine aktive Erdbebenspalte, der Ecemis-Graben.

Zwar kam die Türkische Atomenergie-Behörde Taek, die den Standort Akkuyu bereits 1776 als "geeignet" genehmigte, zu dem Ergebnis, der Ecemis-Graben sei nicht aktiv. Doch diese Einschätzung stützte sich auf eine Expertise von Ingenieuren, nicht von Geophysikern oder Seismologen. Britische und türkische Fachleute widerlegten sie bereits 1991.

Dennoch sah die Taek keinen Anlass für neue Untersuchungen. Professor Atilla Ulug, Leiter der Abteilung für Geophysik an der Dokuz Eylul Universität, dagegen warnt, angesichts der vorliegenden Erkenntnisse sei es "unverantwortlich, wenn nicht gar kriminell", ohne weitere Studien am Bau des AKW festzuhalten.

Seismologische Daten, die bis ins vergangene Jahrhundert zurückgehen, zeigen, dass diese Region Anatoliens in hohem Maße erdbebengefährdet ist. Erdstöße mit der Stärke sechs der Richterskala ereignen sich etwa alle vier bis fünf Jahre, im vergangenen Jahrhundert gab es hier sogar drei Beben mit Stärke sieben. Das Akkuyu-Kraftwerk soll hingegen nur für Erdstöße von maximal 6,5 ausgelegt werden - ein Wert, den das Ceyhan-Beben 1998 mit 6,3 fast erreichte und der vom Beben in der Westtürkei am Dienstag mit 7,4 weit überschritten wurde.

Im Gegensatz zu den seismologischen Tatsachen behaupten die türkischen Elektrizitätswerke, der Standort Akkuyu liege "in der seismisch stabilsten Region der Türkei". Die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA), eine UN-Sonderorganisation zur Kontrolle kerntechnischer Anlagen, hat an dem Bauplatz ebenfalls nichts auszusetzen: Es gebe "weltweit kaum einen geeigneteren Standort für eine AKW, zitierte die Turkish Daily News IAEA-Pressesprecher Hans Friedrich Meyer. Auch die Firma Siemens, die das Kraftwerk bauen möchte, verbreitete Euphorie. So verkündete Siemens-Sprecher Ulrich Fischer im Juli vergangenen Jahres vor der Presse in Istanbul, die Atomenergie sei unbedenklicher als die Stromgewinnung aus Wasserkraft.

Entsorgung? Keine Sorge! Siemens empfiehlt, den Atommüll des geplanten AKW unter dem Taurus-Gebirge zu lagern - auch eine aktive Erdbebenzone. Um den Siemens-Vertretern eine ungestörte Veranstaltung zu sichern, nahm die türkische Polizei neun Greenpeace-Aktivisten fest. Sie hatten vor dem für die Pressekonferenz angemieteten Saal ein Spruchband mit der Aufschrift "Nuklear-Hausierer nicht erwünscht" aufgespannt.

Bei ihren Bemühungen, der Öffentlichkeit das Projekt schmackhaft zu machen, verheddern sich die Kernkraft-Befürworter allerdings mitunter in ihren eigenen Argumenten. So führt die Elektrizitätsgesellschaft Teas nun auf ihrer Internet-Seite als Argument für den Standort Akkuyu die dortige "geringe Bevölkerungsdichte" ins Feld - ein merkwürdiger Hinweis, wo doch vom dem Reaktor angeblich gar keine Gefahren ausgehen.