Die Welt, 19.8.1999

Über Nacht gebaut, beim ersten Zittern eingestürzt

Landflucht erhöht den Wohnungsdruck in türkischen Großstädten ­ sehr zur Freude der Bau-Mafia, die Häuser im Hauruckverfahren hochzieht

Von Thomas Seibert

Mörder", schrie die Schlagzeile des türkischen Massenblatts "Hürriyet". Einen Tag nach dem verheerenden Erdbeben ist zum Schock und Schmerz auch die Wut gekommen: Viele Türken beschuldigen Bauherren und Behörden, ihr Unglück mitverschuldet zu haben.

In erster Linie richtet sich die Kritik an die Verantwortlichen für den Schwarzbau, der in der Türkei den Wohnungsbau bestimmt. Denn hätten sich die Bauherren immer an die Sicherheitsbestimmungen gehalten, so die Kritik, dann könnten viele Erdbebenopfer noch leben. Aber auch mangelnde Vorbereitung auf die Katastrophe und Chaos bei den ersten Helfereinsätzen werden Regierung und Behörden vorgeworfen.

"Hürriyet" druckte Luftaufnahmen, die seinen Vorwurf untermauerten: Die traurigen Überreste in sich zusammengesackter Wohnblocks liegen da inmitten einer Nachbarschaft von völlig unversehrten Appartementhäusern. Der Unterschied: Die zusammengebrochenen Bauten waren Schwarzbauten, die Unversehrten sind legal. Das eigentliche Wunder dabei ist, wie viele Häuser noch stehen ­ denn mehr als die Hälfte der türkischen Häuser sind schwarz gebaut und unterlagen daher bei Planung und Konstruktion keinerlei behördlichen Aufsicht über die Sicherheitsstandards.

Rund 65 Prozent aller Häuser in der Türkei, so schätzt die türkische Handelskammer, sind Schwarzbauten, sogenannte Gecekondu, auf Deutsch: "über Nacht gebaut". In Istanbul und Ankara etwa lebt mindestens die Hälfte der Bevölkerung in illegal gebauten Häusern. In manchen Städten sind es sogar noch mehr, im südöstlichen Sirnak etwa 90 Prozent. Ursache ist die starke Landflucht in der Türkei. Die Verarmung der Landbevölkerung und der bewaffnete Konflikt mit der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Südosten haben im letzten Jahrzehnt Millionen Menschen in die Großstädte getrieben, deren Bevölkerung entsprechend explodiert ist. Weil der öffentliche Wohnungsbau nicht nachkommt, greifen die Menschen zur Selbsthilfe ­ und zu den Diensten der Baumafia. Wer genug "Bakschisch" zahlt, darf bauen. Ob die Bauherren irgendwelche Standards oder Vorschriften einhalten, interessiert niemanden ­ bis die Häuser beim nächsten Beben einstürzen.

Das Problem ist nicht neu. Nach jedem Erdbeben häufen sich die Warnungen, dass endlich mit dem Wildwuchs aufgeräumt werden muss. Der neueste Innenminister, Sadettin Tantan, unternahm auch erst zu Monatsbeginn einen neuen Anlauf und ordnete den Abriss aller Schwarzbauten an. Das löste lediglich ungläubiges Staunen in Presse und Öffentlichkeit aus ­ denn Ersatzwohnungen für die Betroffenen waren in seinem Plan nicht vorgesehen. Und so erfüllte das jüngste Erdbeben auch nur die Prophezeiungen, die nach dem Erdstoß von Adana gemacht wurden, bei dem im Sommer letzten Jahres mehr als 140 Menschen starben ­ auch sie meist in den Trümmern von Schwarzbauten.

Kritik gab es aber auch an den Rettungseinsätzen der Behörden, wenngleich viele Türken auch zugestehen, dass eine solche Katastrophe nicht reibungslos bewältigt werden kann. Mehrere Zeitungen warfen dem Krisenstab der Regierung am Mittwoch mangelnde Koordination der ersten Rettungsbemühungen vor. Weitere Mängel wurden erst am Tag nach dem Beben deutlich. In Sakarya, dem am zweitstärksten getroffenen Ort der Türkei, fehlte es an Wasser und an Lebensmitteln. Zeitweise kam es dort sogar zur offenen Konfrontation zwischen der Bevölkerung und Rettungsarbeiten, als schweres Räumgerät eingesetzt werden sollte: Die Menschen fürchteten, ihre Verwandten unter den Trümmern könnten von den schweren Baggern zerquetscht werden.