junge Welt 18.7.1999

Verhöre, Razzien, Taschengeldentzug

Armenier protestiert mit Hungerstreik gegen niedersächsisches »Modellprojekt«

In der Zentralen Anlaufstelle für Asylsuchende (ZASt) in Braunschweig befindet sich seit drei Wochen ein Flüchtling aus Armenien im Hungerstreik. Der 30jährige protestiert mit der Aktion gegen seine Behandlung im Rahmen des sogenannten »Projektes X«. Nach einem Jahr in der ZASt sei der Mann »psychisch zermürbt«, sagt die Flüchtlingsbetreuerin Silke Schierding vom Diakonischen Werk der Braunschweiger Landeskirche.

Seit rund fünfzehn Monaten interniert die niedersächsische Landesregierung Flüchtlinge, die angeblich ihre Herkunft verschleiern und so ihre Abschiebung verhindern, in Sammellagern. Durch ständige Verhöre, Taschengeldentzug und teilweise auch Zimmerrazzien sollen die Betroffenen mürbe gemacht werden, bis sie ihre Staatsangehörigkeit preisgeben.

Nach Angaben der Landesregierung halten sich in Niedersachsen rund 1 200 Flüchtlinge mit ungeklärter Staatsangehörigkeit auf, die <Bild: Abbildung> deswegen nicht abgeschoben werden können (Foto: Identitätsfeststellung mit allen Mitteln). 111 von ihnen, ausschließlich alleinstehende Männer, erhielten im Frühjahr vergangenen Jahres die schriftliche Aufforderung, sich zwecks Teilnahme an dem »Modellprojekt« in den Zentralen Anlaufstellen des Landes in Braunschweig und Oldenburg einzufinden. Ihnen wurde eine befristete Duldung in Aussicht gestellt, gekoppelt an ein Arbeits- und Reiseverbot. Von ursprünglich 70 Personen, die sich in einem der beiden Lager meldeten, waren kurze Zeit darauf 15 wieder verschwunden. Bei elf weiteren ließ sich laut Innenministerium eine Staatsangehörigkeit feststellen.

44 »Projektteilnehmer«, jeweils 22 in Braunschweig und Oldenburg, leben seit mehr als einem Jahr in den Gemeinschaftsunterkünften, ohne daß die Internierung zu dem gewünschten Ergebnis geführt hat. In vom Ministerium »Interviews« genannten Verhören, die alle paar Tage stattfinden und eine halbe bis zwei Stunden dauern, versuchen eigens dafür eingestellte ZASt-Mitarbeiter, den Flüchtlingen Informationen über ihr Herkunftsland zu entlocken. Nach Angaben des Niedersächsischen Flüchtlingsrates müssen auch Sozialarbeiter und Übersetzer mit ermitteln. So würden Dolmetscher nach jedem »Interview« nach ihren persönlichen Eindrücken befragt.

In der Regel schenken die »Interviewer« denjenigen Flüchtlingen, die angeben, aus einem Bürgerkriegsland zu kommen, in das nicht abgeschoben werden darf, keinen Glauben - so auch im Fall des hungerstreikenden Armeniers, dessen Angaben von der armenischen Botschaft bestritten werden. Teilweise werde die Beschaffung von Rückkehrdokumenten von den Botschaften sogar regelrecht blockiert, so daß Flüchtlinge gar nicht den Beweis ihrer Identität antreten könnten, berichtet eine Flüchtlingshelferin.

Weil oft Aussage gegen Aussage steht und trotz intensiver Verhöre die erwünschten Auskünfte nicht erteilt werden, hat das Land Niedersachsen Anfang des Jahres die Schrauben weiter angezogen. Im Januar wurde den Betroffenen das ohnehin spärliche Taschengeld in Höhe von 80 Mark gestrichen. Ebenso die Erlaubnis, für zwei Mark pro Stunde »gemeinnützige« Arbeiten zu verrichten. »Die Flüchtlinge aus dem >Projekt X< erhalten keinerlei private Geldmittel und sind von sämtlichen Möglichkeiten ausgeschlossen, ihre persönliche Situation zu verbessern«, klagte das Diakonische Werk am vergangenen Wochenende in einer Presseerklärung. Selbst Briefmarken oder Schuhcreme könnten »nicht ohne finanzielle Unterstützung Dritter« erworben werden.

Das Oldenburger »Bündnis gegen Lager« weiß zudem von mindestens einem Flüchtling, »bei dem eine Durchsuchung seines Zimmers durchgeführt wurde«. Dabei seien auch persönliche Briefe gelesen und das Adreßbuch kontrolliert worden.

Nach Einschätzung von Flüchtlingsorganisationen verleitet das »Projekt X« die Betroffenen geradezu zum Untertauchen. Dies entspreche aber durchaus der Intention der Behörden, weil die Flüchtlinge dann nicht mehr dem Sozialamt »zur Last fallen«. Eine Sprecherin der Bezirksregierung Braunschweig räumte gegenüber der Nachrichtenagentur epd ein, daß der Erfolg des Modellversuchs »unterschiedlich« sei. Auf den Gesundheitszustand des Armeniers angesprochen, sagte die Sprecherin, der Mann stehe unter ärztlicher Beobachtung und werde gegebenenfalls in ein Krankenhaus verlegt und dort zwangsernährt.

Reimar Paul; Foto: argum/Heller