Süddeutsche Zeitung 18.7.1999

Ohne Statik auf gestohlenem Land

In den illegalen "Gecekondu"-Vierteln der Großstädte sind die Zerstörungen am schlimmsten

Von Wolfgang Koydl

Ob in Erzurum, Adana oder jetzt in Iszmit und Istanbul - immer wenn in der Türkei die Erde bebt, klappen sie als erste wie Kartenhäuser zusammen: illegal errichtete Wohngebäude in den sogenannten Gecekondu-Vierteln der türkischen Großstädte. Auch bei dem jüngsten Beben in der Westtürkei dürften die meisten Opfer in jenen ärmlichen Stadtteilen zu finden sein, die sich wie Krebsgeschwüre ringförmig um die Städte gelegt haben.

Wörtlich bedeutet "Gecekondu" so viel wie "in einer Nacht erbaut". Der Begriff geht auf eine alte Bestimmung aus dem Osmanischen Reich zurück. Danach wurde zu Sultans Zeiten jeder Schwarzbau legalisiert, solange er nur nachweislich binnen einer Nacht errichtet wurde. Was dem Herrscher recht war, konnte der Republik nur billig sein. Auch viele Stadtverwaltungen trugen dem "Gecekondu"-Prinzip Rechnung: Eher früher als später versorgten sie die ursprünglich illegale Siedlung mit Strom, Wasser, Kanalisation, Straßen und Buslinien. Sie hatten auch kaum eine andere Wahl, da Staat und Stadt ohnehin kein Geld für den Wohnungsbau gehabt hätten.

Eines der berühmtesten und zugleich abschreckendsten Beispiele für ein "Gecekondu" ist der Istanbuler Stadtbezirk Sultanbeyli auf der asiatischen Seite der Metropole. Vor 15 oder 20 Jahren waren hier noch grüne Wiesen. Dann zogen die ersten Bauern aus Zentral- und Ostanatolien mit ihren Ziegen und Schafen hierher. Heute ist Sultanbeyli eine Millionenstadt mit eigener Verwaltung und islamischem Bürgermeister. Das zehnstöckige Rathausgebäude ist von der Autobahn Istanbul - Ankara aus nicht zu übersehen.

"Gecekondu"-Viertel darf man sich indes keineswegs als elende Slums vorstellen. Meist handelt es sich um schlichte, aber saubere Betonhäuser, die je nach Bedarf aufgestockt werden, wenn ein Sohn oder eine Tochter heiraten und eine Wohnung brauchen. Da bei diesen Anbauten im allgemeinen die Statik nicht berücksichtigt wird, brechen die Gebäude schon bei leichteren Beben zusammen.

Leben im "Gecekondu" ist heute nicht mehr billig. Sobald die Quartiere über eine Infrastruktur verfügen, steigen die Grundstücks- und Wohnungspreise sowie die Mieten. In guten Lagen Istanbuls kostet eine durchschnittliche Drei-Zimmer-Wohnung im "Gecekondu"-Viertel bereits bis zu 100 000 Mark. In den meisten dieser Distrikte haben Makler ihre Büros eröffnet, die ganz offen mit gestohlenem, weil staatlichem oder städtischem Land handeln. Die Folge: die türkischen Städte breiten sich unkontrolliert und ohne Rücksicht auf Grüngürtel oder Wasserreservoirs immer weiter aus.

Das Wachstum der "Gecekondus" begann in den siebziger Jahren, als Armut, Arbeitslosigkeit und Aussichtslosigkeit in den vernachlässigten Regionen Anatoliens immer mehr Menschen in die Metropolen der Westtürkei trieben. Verstärkt wurde dieser Trend in den achtziger und neunziger Jahren, als der mit großer Grausamkeit auch gegen die Zivilbevölkerung geführte Bürgerkrieg gegen die separatistische "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) immer mehr Bauern aus ihren Dörfern vertrieb.

Den türkischen Behörden waren die illegalen Siedlungen teils genehm, teils waren sie ihnen lästig. Politiker neigten ohnehin immer dazu, "Gecekondu"-Quartiere rasch legalisieren zu lassen, weil sie sich Stimmen bei den nächsten Wahlen erhofften. Außerdem versprachen diese Viertel eine rasche Rendite. So mancher Elendsdistrikt, der seinerzeit am Rande Istanbuls lag, erweist sich heute als Spitzenlage mit Bosporus-Blick.

Türkische Sicherheitsbehörden indes empfanden die unkontrolliert wuchernden Siedlungen stets als Risiko. Es gab in der Tat Viertel, die von linksextremen Gruppen gehalten wurden und in die sich nicht einmal die Polizei hineinwagte. Nur einen Tag vor dem verheerenden Erdbeben hatte der türkische Innenminister Sadettin Tantan den Abriss aller "Gecekondus" in Istanbul angekündigt. Freilich wusste er selbstverständlich, dass dies eine leere Drohung war, denn rund 65 Prozent aller Wohnungen der Bosporus-Metropole sind Schwarzbauten. Tantan machte denn auch wohlweislich keine Angaben, wo die heimatlosen "Gecekondu"-Bewohner dann leben sollten.