jungle world, 11.8.1999

Wenig oder nichts

Öcalan ruft die PKK zum Rückzug auf - und die Guerilla folgt. Eine Alternative hat sie ohnehin nicht

War es das Eingeständnis der Niederlage eines geschlagenen Guerillaführers? Das Bemühen eines einsamen Mannes, seinen Kopf zu retten? Oder die Initiative, einen Krieg zu beenden, bei dem es für keine Seite mehr etwas zu gewinnen gibt? Wie man auch die jüngste Erklärung Abdullah Öcalans wertet, mit ihr wurde eine neue Phase des Kurden-Konflikts eingeleitet.

In Istanbul ließ vergangene Woche der inhaftierte PKK-Vorsitzende über seine Anwälte verlautbaren: "Die Atmosphäre des bewaffneten Konflikts und der Gewalt verhindern die Menschenrechte und die demokratische Entwicklung in der Türkei. Um das Problem zu lösen, ist es notwendig, die Gewalt zu beenden."

Die Konsequenz: Öcalan rief seine Partei auf, ab 1. September den bewaffneten Kampf zu beenden und alle Truppen hinter die Staatsgrenzen zurückzuziehen. Rechtsanwalt Mahmut Sakar ergänzte, sein Mandant halte einen Rückzug für notwendig, weil es trotz des seit 1998 gültigen einseitigen Waffenstillstands immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen sei. Dies habe die Bildung einer stabilen Grundlage für eine politische Lösung verhindert.

Zuvor hatten bei dem Besuch des deutschen Außenministers Joseph Fischer türkische Politiker erklärt, der EU-Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 sei die letzte Chance für einen Beitritt der Türkei zur EU. In diese Zeit fiel auch der Türkei-Besuch von Harald Koh, Unterstaatssekretär für Menschenrechtsfragen im US-Außenministerium.

Nach einem Abstecher in die kurdischen Gebiete und nach Gesprächen mit der inhaftierten Abgeordneten Leyla Zana sowie dem ebenfalls einsitzenden Menschenrechtsaktivisten Akin Birdal erklärte Koh, der Konflikt sei mit militärischen Mitteln allein nicht zu lösen. Die Türkei müsse der "kurdischen Gemeinschaft den Gebrauch ihrer Sprache und die Vertretung ihrer Interessen" gestatten. Ungewohnte Worte eines US-Regierungsvertreters - hatten doch die USA bislang die Türkei in ihrem Vorgehen gegen die kurdische Bewegung vorbehaltlos unterstützt. Schlecht für Ankara, gut für mich, wird sich Öcalan gedacht haben. Seit der Urteilsverkündung hat er Zugriff auf Radio und Presse.

Ministerpräsident Bülent Ecevit reagierte auf Öcalans Erklärung mit der Formel, der Staat werde sich mit niemandem auf einen Handel einlassen, fügte aber hinzu: "Jeder muß seinen Beitrag zur Beendung des separatistischen Terrors leisten" - abgesehen von der gewohnten Wortwahl das Anzeichen einer vorsichtigen Annäherung. Denn auch Öcalans Erklärung hatte mit dem Aufruf an alle Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft geendet, "sensibel gegenüber dem Erfolg dieser Phase des Friedens und der Brüderlichkeit zu sein". Oktay Eksi wies in der Tageszeitung Hürriyet auf diese Parallele hin und deutete die Aussage des Regierungschefs als Botschaft an die PKK: "Wenn ihr eurem Chef Folge leistet, könnt ihr von der Türkei neue Vorstöße erwarten."

Verhalten optimistisch reagierten auch Vertreter der anderen Koalitionsparteien. Der Abgeordnete der Mutterlandspartei (ANAP), Ertugrul Yayçinbayir, und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Ömer Izgi, begrüßten Öcalans Erklärung als "positive Entwicklung". Andere Abgeordnete aus Regierung und Opposition zweifelten an Öcalans Aufrichtigkeit und forderten die vollständige Kapitulation der bewaffneten Verbände.

Galt noch bis vor kurzem allein die Veröffentlichung von Interviews mit Öcalan als Straftat, werden heute seine Stellungnahmen - und die der PKK - in vielen Blättern als Schlagzeile gedruckt. Die PKK wird, auch wenn dies niemand zugeben will, indirekt als Verhandlungspartner ernst genommen. Das bedeutet nicht, daß die Türkei vor der Aufnahme direkter Kontakte zur PKK steht. "Man muß sich nicht an einen Tisch setzen", bemerkte der Chefredakteur der Hürriyet, aber der Staat müsse den Erfolg über die PKK verwerten und geeignete Wege finden für eine dauerhafte Lösung finden.

Einen Schritt dazu hat es möglicherweise am Wochenende gegeben. Präsident Demirel empfing die Bürgermeister von kurdischen Provinzhauptstädten, allesamt Mitglieder der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (Hadep). Diese scheinbar unbedeutende Geste ist angesichts der Repression, der die Partei und ihre Vorgänger ausgesetzt waren (und sind), und angesichts des anhängigen Verbotsverfahrens gegen die Hadep nicht zu vernachlässigen.

Nicht nur in Hürriyet, sondern in großen Teilen der türkischen Öffentlichkeit ist die Hysterie verflogen, dafür setzt sich mehr und mehr die Auffassung durch, daß es sich um eine einzigartige Gelegenheit für die Türkei handele. Strittig war allein, ob die bewaffneten Truppen Öcalans Aufruf Folge leisten würden.

Diese Frage stellten sich auch die prokurdischen Medien, deren erste Reaktionen eher verlegen und unwillig wirkten. Ungewohnt wertfrei titelte Özgür Politika: "Ein neuer Schritt Öcalans". Ein Kommentator des Blattes meinte, nun sei endgültig der letzte Punkt erreicht, auf den sich die Bewegung einlassen könne. Ein anderer hatte seinen Lenin aufmerksam gelesen und meinte, den Stab, den Öcalan verbiege, könnten die Partei und die Guerilla wieder geradebiegen - für PKK-Verhältnisse eine sensationelle öffentliche Kritik im Hausblatt.

Die Berichterstattung der prokurdischen Medien deutet darauf hin, daß für viele Kader mit der jüngsten Erklärung Öcalans eine Schmerzgrenze erreicht wurde und es für weite Teilen der Organisation offen war, wie die Parteispitze reagieren würde. Mancher Funktionär hatte die Hoffnung, die Partei werde endlich Schluß machen mit dem Friedensgeschwätz ihres Chefs und zur alten Form zurückfinden. Schlimmer als unbeliebte Entscheidungen aber ist für eine Kaderorganisation die Ungewißheit. Nach zwei Tagen konnte Özgür Politika erleichtert vermelden: "Die mit Spannung erwartete Stellungnahme des Präsidialrates - Wir unterstützen."

Das seit der Verschleppung Öcalans kollektive Führungsgremium der PKK beendete mit dieser Erklärung alle Spekulationen: Dies sei ein "historischer Wendepunkt", man stimme dem "Genossen Vorsitzenden" zu. Und weiter: "Der große Aufruf unseres Vorsitzenden, mit dem der heilige nationale Befreiungskampf der Partei ein neues Niveau erreicht und der den gegenwärtigen Bedingungen entspricht, ist der einzige Weg für eine Lösung des Kurden-Problems und für eine Demokratisierung der Türkei." Die Gegenseite wird aufgefordert, der "Realität mit klarem Verstand, Verantwortungsbewußtsein und Respekt zu begegnen." Tags darauf wurde nochmals Geschlossenheit demonstriert. Beide Pole der Organisation - die europäische Leitung der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) und das Kommando der Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) - meldeten sich zeitgleich zu Wort und bekräftigten ihre Unterstützung des neuen Kurses. Die ARGK werde sich zurückziehen und bewaffnete Aktionen - außer zur Selbstverteidigung - einstellen.

Wohin sich die Truppen zurückziehen werden, blieb allerdings offen. Möglich wäre ein Rückzug in den Nordirak, was aber Auseinandersetzungen mit den dortigen Milizen nach sich ziehen könnte. Zumal sich die dortigen Milizenführer Mesut Barzani und Celal Talabani mal wieder versöhnt haben. Eine bedrohliche Entwicklung für die PKK, da die Demokratische Partei Kurdistans Barzanis mit Ankara verbündet ist, während Talabanis Patriotische Union Kurdistans bislang der PKK in ihrem Gebiet Bewegungsfreiheit gewährte.

Unklar ist, ob der Iran bereit sein wird, eine größere Anzahl von PKK-Leuten auf seinem Gebiet zu dulden. Die Rückzugswege sind versperrt und der eingeschränkte Operationsraum außerhalb der Türkei - zuletzt die folgenreiche Vertreibung aus Syrien - hatte zum militärischen Niedergang der Guerilla beigetragen. Die Umstände, die die aktuelle Verhandlungsbereitschaft ausgelöst haben, könnten nun eine Lösung erschweren oder unmöglich machen. Sollte ein sicherer Rückzug nicht durchzuführen sein, scheint ein Bruch der Guerilla mit Öcalan programmiert.

Aber auch auf türkischer Seite gibt es nicht nur positive Signale. Die Verschleppung des ERNK-Funktionärs Cevat Soysal und die letzte Woche gezeigte Kampfbereitschaft der Konterguerilla zeigen, daß es Kräfte im Sicherheitsapparat gibt, die den Krieg fortsetzen wollen: Am Vorabend der Erklärung Öcalans wurde bei Silvan in der Provinz Diyarbakir ein Kleinbus mit Bauern von unbekannten Tätern beschossen. Sechs Insassen kamen ums Leben, die übrigen überlebten mit zum Teil schweren Verletzungen. Mitglieder des Menschenrechtsvereins und der Anwaltskammer von Diyarbakir untersuchten den Vorfall und berichteten, der Angriff habe in der Nähe einer Kaserne stattgefunden. Auffällig sei, daß die Militärs auf das Feuer nicht reagierten und den Verletzten erst nach mehreren Stunden Hilfe leisteten.

Am Wochenende meldete sich der PKK-Chef, dem vorerst der Beweis seiner Autorität gelungen ist, erneut zu Wort. Öcalan erklärte, die Einstellung der bewaffneten Aktionen resultiere nicht aus simplen taktischen Überlegungen, sondern sei eine strategische, für die PKK lebensnotwendige Entscheidung. Die Forderung nach Kapitulation wies er zurück und wertete die Morde von Silvan als Beleg für die Gefahr von provokativen Aktionen, der die ARGK am ehesten durch einen vollständigen Rückzug aus der Türkei begegnen könne.

Öcalans Entscheidung ist die letzte Konsequenz der Kompromißbereitschaft und kommt zu einer Zeit, in der vor allem die äußeren Bedingungen wohl günstig sind. In den folgenden Monaten werden vor allem zwei Faktoren die weitere Entwicklung bestimmen: Zum einen die Frage, ob und welchen Platz die USA in ihrer Kurden-Politik der PKK einräumt, zum anderen die Haltung der Europäischen Union bis zur Deadline von Helsinki. Während die US-Haltung noch unklar ist, könnte die EU, wenn sie Ankara als Beitrittskandidat anerkennt, ein Druckmittel gegenüber dem Land am Bosporus gewinnen.

Auch in der Türkei scheinen günstige Voraussetzungen für einen politischen Prozeß gegeben zu sein. Dabei könnte der ungünstige Umstand, daß derzeit die beiden links- und rechtsnationalistischen Parteien - Ecevits Demokratische Linkspartei und die MHP - an der Regierung sind, sich als Vorteil erweisen. Denn neben den Islamisten sind dies Parteien, die über die aktivste Massenbasis verfügen. Falls ein politischer Prozeß für den Kurden-Konflikt eingeleitet werden sollte, wäre eine starke Opposition der extremen Nationalisten weitgehend unterbunden.

Auffällig ist auch, daß trotz der Hochsaison das Militär zur Zeit auf größere Operationen verzichtet. Dafür besuchten in den letzten Wochen hochrangige Militärs die Gefängnisinsel Imrali - zuletzt der einflußreiche Garnisonskommandant von Istanbul, Çevik Bir. Offiziell hieß es, mit Öcalan habe kein Treffen stattgefunden.

Öcalans Erklärung ist keine Kapitulationserklärung. Er spielt "Wenig oder nichts" und versucht, aus der politischen und militärischen Defensive - nicht nur seiner persönlichen, sondern der gesamten Bewegung - herauszukommen. Andererseits birgt die Initiative aber auch ein großes Risiko: Wenn sich eine nennenswerte Zahl von PKK-Kommandeuren dem Rückzug widersetzen oder die türkische Seite keine entscheidenden Zugeständnisse machen sollte, wird die PKK den bewaffneten Kampf wieder aufnehmen. Und das wäre das politische Ende Öcalans.

Ilker Deniz Yücel