Süddeutsche Zeitung 17.8.1999

Freie Fahrt für Investoren

Mit zahlreichen Reformen öffnet sich die Türkei fremdem Kapital

Jeder Türke kennt den Spruch auswendig, schließlich hat er ihn zigtausend Mal auf dem Schulhof vor der Atatürk-Büste aufgesagt: "Ich bin Türke, ich bin aufrecht, ich bin fleißig." Auch den 550 Abgeordneten des türkischen Parlaments ist das Motto vertraut. Sie sind nun einen Schritt weiter gegangen und haben den frommen Wunsch mit Leben erfüllt: Mitten im August, wenn andere europäische Parlamentarier schon seit Wochen im Urlaub sind, haben sie fleißig Überstunden eingelegt. In der Tat hat die Meclis in den vergangenen sechs Wochen mehr Gesetze verabschiedet als manches andere türkische Parlament in einer ganzen Legislaturperiode. Nicht nur quantitativ, auch qualitativ hat die im April gewählte Volksversammlung neue Maßstäbe gesetzt: Regierung und Parlament haben wichtige Weichen auf dem Weg zu den einschneidendsten wirtschaftlichen Reformen der Türkei seit knapp 20 Jahren gestellt. Kernstück des Reformpakets ist die Einführung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit bei Streitfällen um Konzessionsbedingungen und Konzessionsverträgen, an denen ausländisches Kapital beteiligt ist. Eigentlich sollte dies keine Sensation sein, schließlich unterwerfen sich die meisten Staaten der Welt in solchen und ähnlichen Fällen einer derartigen Arbitrage. Nicht so die Türkei, die eifersüchtig über ihre nationale Souveränität wacht. Schon Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk war die wirtschaftliche Unabhängigkeit seines jungen Staates ein wichtiges Anliegen. Diese Unabhängigkeit wurde auch in die Verfassung aufgenommen, die nun eigens geändert wurde. Die Wurzeln für das Misstrauen gegenüber dem Ausland liegen weit in der Vergangenheit. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten europäische Mächte, angeführt von Großbritannien, vom machtlosen Sultan wirtschaftliche Sonderrechte erpresst. Diese Kapitulationen ermöglichten eine schamlose Ausbeutung des Osmanischen Reiches. Viele Türken sind noch heute überzeugt, dass die Kapitulationen zum Staatsbankrott von 1875 führten. Entsprechend emotional verlief die Debatte über die Schiedsgerichtsbarkeit, wobei dem Internationalen Währungsfonds (IWF) die Rolle des Erzspitzbuben und westlich-kapitalistischen Ausbeuters zugewiesen wurde. Tatsächlich hatte der IWF diese Reform und andere unbequeme Maßnahmen als Bedingung für die Auszahlung eines dringend benötigten Milliardenkredits genannt. Die nationalistischen Gegner der wirtschaftlichen Öffnung hatten keine Chance: Am Wochenende verabschiedete das Parlament gegen den Widerstand der Gewerkschaften eine Erhöhung des Rentenalters auf 58 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer. Zuvor hatte die Pensionsgrenze bei weltweit vermutlich einzigartigen 38 beziehungsweise 40 Jahren gelegen. Diese für die Volkswirtschaft ruinöse Großzügigkeit war ein Geschenk des früheren Premiers Süleyman Demirel gewesen. Die Privatwirtschaft erhofft sich nun verstärkte ausländische Investitionen, vor allem im Energiebereich. Die Regierung hat dazu kein Geld, und wenn das Ausland nicht einspringt, könnten bald die Lichter ausgehen. Das wäre bitter für die Parlamentarier. Sie wollen diese Woche noch Nachtschichten einlegen. Eine Amnestie und ein Kronzeugengesetz für kurdische Aufständische stehen an, bevor die Meclis nächste Woche endlich Urlaub macht. Wolfgang Koydl