Frankfurter Rundschau 16.8.1999

Die Eroberung der Menschenrechte

Die größte Tragödie der Völker ist die Armut / Mireille Delmas-Marty über unteilbare Ideale im Zeitalter der Globalisierung

"Welche Zukunft für die Menschenrechte?" Unter diesem Titel veranstaltete die Unesco in ihrer Reihe "Gespräche zum 21. Jahrhundert" im Juni in Paris eine hochkarätig besetzte Konferenz. Es sprachen unter anderen Mary Robinson, Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Federico Mayor, Generaldirektor der Unesco, und Mireille Delmas-Marty, Rechtsprofessorin an der Universität Paris I und Mitglied des französischen Universitätsinstitutes. Wir dokumentieren eine kurze Zusammenfassung der Konferenz von Julia Koch, die auch den Beitrag Delmas-Martys übersetzt hat, den wir im Wortlaut veröffentlichen.

Im Hintergrund: Nicht eingelöster Scheck Julia Koch über die Zukunftskonferenz

Federico Mayor betonte in seinem Vortrag bei der Konferenz zur Zukunft der Menschenrechte, dass der "Scheck der Menschenrechte" für die eine Milliarde und dreihundert Millionen Menschen auf der Welt, die in absoluter Armut leben und von denen zwei von drei Frauen sind, ebenso wenig eingelöst sei wie für die 885 Millionen Analphabeten, für das Fünftel aller Kinder im schulfähigen Alter, das keine Schule besuchen kann, und das Viertel der Menschheit, das keinen Zugang zu Trinkwasser hat. Für alle Menschen, die unter Krieg, Gewalt, Folter, Zwangsdeportationen oder "ethnischen Säuberungen" leiden, sei dieser Scheck ebenfalls unbezahlt.

Mayor machte erneut darauf aufmerksam, dass nur vier Staaten dem 1974 von allen Industriestaaten eingegangenen Engagement, mit 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes zur öffentlichen Entwicklungshilfe beizutragen, nachkomme: Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Schweden.

Alle OECD-Länder zusammen widmen heute insgesamt nicht mehr als 0,22 Prozent ihres Bruttosozialproduktes der Entwicklungshilfe und "eine Supermacht opfert nur 0,09 Prozent". Im 21. Jahrhundert käme es vor allem darauf an, dass wir lernten, unsere Meschenrechtsversprechen zu halten. Dabei müssten alle Menschenrechte als universell und unteilbar erachtet werden. Die neuen Akteure der Globalisierung, insbesondere die transnationalen Unternehmen, von denen laut Mary Robinson die 500 wichtigsten ein Drittel des weltweiten Bruttosozialproduktes und drei Viertel aller Handelsströme kontrollierten, müssten angehalten werden, die "ethische Dimension ihrer Aktivitäten" zu respektieren.

Die Menschenrechte für das 21. Jahrhundert erforderten die Schaffung einer Demokratie auf globaler Ebene, da die Probleme heute nicht mehr brav am Zoll oder an den Grenzposten Halt machten. Während Umwelt- und Menschenrechtsprobleme sich ebenso wie der Markt globalisiert hätten, glaubten wir immer noch, dass es nationale Antworten darauf geben könnte. Angesichts des globalen Marktes und der weltweiten Herausforderungen könne aber nur eine internationaler Demokratie, vielleicht aufbauend auf den Modellen regionaler Integration (EU, Mercosur), Antworten für das 21. Jahrhundert liefern.

Auch Mary Robinson wies besonders auf die wachsende ökonomische Kluft zwischen armen und reichen Nationen hin. Während der Begriff des "global village" immer häufiger gebraucht werde, würde keine Stadt der Welt derartige Ungleichheiten unter ihren Einwohnern dulden.

Prävention, Kontrolle, Umsetzung und Entwicklung seien die uns zur Verfügung stehenden Instrumente, um im 21. Jahrhundert eine Welt zu schaffen, in der die Menschenrechte vorangestellt und verteidigt würden. Wie dies konkret aussehen könnte, dazu äußerte sich vor allem die Juristin Mireille Delmas-Marty:

Die Kulissen haben sich geändert: Heute befinden sich die Menschenrechte im Kontext der ökonomischen Globalisierung, ohne dass wir immer eindeutig wissen, ob dieser hervoragende Motor uns den Menschenrechten näher bringt, indem er die Staaten dazu zwingt, einen Teil ihrer Souveränität aufzugeben; oder ob er uns davon entfernt, indem er durchsetzt, was mehr dem Recht des Stärkeren als der Ausbreitung der Menschenrechte auf der Erde gleicht.

Ob der ökonomische Motor schnell durchdreht oder ob er einige Fehlzündungen hat, die Menschenrechte müssen unser Richtungsweiser bleiben. Die Universelle Erklärung der Menschenrechte als ein gemeinsames, von allen Völkern und allen Nationen zu erreichendes, für alle Individuen und alle Organe der Gesellschaft geltendes Ideal hat uns vor allem zwei Orientierungspunkte geliefert. Zum einen sind sie ein Ideal im Sinne eines evolutiven Prozesses; zum anderen sind sie ein gemeinsames Ziel, das uns zwischen der den Menschen aufgezwungenen Uniformität einerseits und der Konfrontation der Partikularismen andererseits auf unsere gemeinsame Zugehörigkeit zur selben menschlichen Natur verweist. Die Zukunft der Menschenrechte gestaltet sich entlang dieser beiden Anhaltspunkte.

Ein zu erreichendes Ideal

Per Definition unterscheidet sich das Ideal von der Realität - und die Abweichungen sind erheblich. Die Realität hört nicht auf, uns in einer oft tragischen Weise daran zu erinnern. Der Weg von der Verkündung der Menschenrechte zu deren Umsetzung, um diese Abweichungen zu verringern, ist bereits gezeichnet: Er heißt Effektivität und Unteilbarkeit. In Zeiten der ökonomischen Globalisierung wäre es ein Irrtum, die Marktwirtschaft zu verteufeln. Besser ist es, von den Auswirkungen der Öffnung zu profitieren und deren Risiken mit Hilfe des Prinzips der Unteilbarkeit, das heißt der gleichen Anerkennung aller fundamentaler Rechte, zu reduzieren.

Effektivität

Man glaubte, von der Verkündung zur Umsetzung der Menschenrechte sei es ein gerader Weg, mit Hilfe staatlicher Konventionen und, wenn möglich richterlicher Kontrollmechanismen zur Feststellung und Ahndung von Menschenrechtsverletzungen. Die Realität ist sehr viel komplexer. Die Effektivität erfordert unterschiedlichste Instrumente.

Der Stellenwert von Menschenrechtskonventionen ist oft gering - nicht nur durch die Zeit, die die Staaten zu deren Ratifizerung benötigen, sondern auch durch die Wichtigkeit der Vorbehalte. So war die Konvention über die Rechte der Frau Gegenstand einer extrem hohen Anzahl an Vorbehalten, von denen einige die Verneinung des Sinnes selbst der Konvention zur Folge hatten. Die Beispiele sind leider ebenfalls zahlreich in Bezug auf die Konvention über die Rechte des Kindes.

Die Unzulänglichkeiten solcher Konventionen liegen jedoch auch an den Mängeln der Kontollmechanismen. Deshalb geht die Zukunft der Menschenrechte Hand in Hand mit der Ratifizierung der Konventionen seitens der Staaten, mit der Einschränkung, ja sogar dem Verschwinden der Vorbehalte in punkto Menschenrechte, und mit der Ausweitung der Kontrollmechanismen.

Die richterliche Kontrolle muss auf alle regionalen Vereinbarungen ausgedehnt werden. Diese Art der Kontrolle existiert bereits im Rahmen der amerikanischen und der europäischen Konvention. Die afrikanische Charta beinhaltet ein im letzten Jahr angenommenes Zusatzprotokoll, das auf die Schaffung eines afrikanischen Menschenrechtsgerichtshofes zielt. Ebenso nötig wäre die Schaffung eines Kontrollorgans in der arabischen Charta. Und in den UN muss sich die quasi-richterliche Kontrolle des Menschenrechtsausschusses in eine richterliche Kontrolle umwandeln.

Die Kontrolle geschieht jedoch auch durch die nationale Justiz. Die Anerkennung der direkten Umsetzbarkeit der Übereinkommen ist ein sehr wichtiges Element der Effektivität der Menschenrechte. Frankreich ist die Bühne einer solchen Debatte in Bezug auf die Konvention über die Rechte des Kindes. Meiner Meinung nach muss diese Übereinkunft von ihrer direkten Umsetzbarkeit profitieren. Im strafrechtlichen Bereich dürfen wir nicht vergessen, dass das House of Lords sich bei seinen Entscheidungen in der Pinochet-Affäre auf die UN-Konvention zur Folter gestützt hat. Aus alle dem ergibt sich mit höchster Dringlichkeit die Ratifizierung der Konvention von Rom zur Schaffung des internationalen Strafgerichtshofes.

Das Strafrecht zeigt jedoch, dass Effektivität nicht immer an Konventionen gebunden ist. Dieser zukünftige internationale Strafgerichtshof folgt den internationalen Straftribunalen für Ex-Jugoslawien und Ruanda, sogenannten Ad-hoc-Gerichten, die auf Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in den Jahren 1993 und 1994 beruhen. Sicherlich, deren Kompetenzen sind begrenzt. Aber ihre Schaffung war dank des Instrumentes der Resolution sehr schnell möglich, und der Mechanismus erwies sich als sehr wirkungsvoll - zum Beispiel auf Grund der Unmöglichkeit, Strafverfolgungen auf Verlangen des Sicherheitsrates zu unterbrechen.

Schließlich spielt die Zivilgesellschaft in Form der Nichtregierungsorganisationen eine Hauptrolle für die Effektivität der Menschenrechte. Ich möchte der zukünftigen Wichtigkeit der Deklaration der Generalversammlung vom Dezember 1998 über die Verteidiger der Menschenrechte Nachdruck verleihen. Sie kündigt vielleicht eine Weltbürgerschaft an. Tatsächlich erkennt sie das Recht und die Verantwortung der Zivilgesellschaft (Individuen, Gruppen, Organe, etc.) zur Förderung und Beschützung der universell anerkannten Rechte und Freiheiten an.

Damit sind die richterlichen oder quasi-richterlichen Kontrollen, auch wenn sie zur Sicherung der Effektivität noch nicht ausreichen, unverzichtbar für die Ausbreitung der Menschenrechte. Diese sind jedoch quasi inexistent im Falle der Verletzung ökonomischer, sozialer und kultureller Rechte, während gerade diese es angesichts der ökonomischen Globalisierung erlauben müssten, wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte miteinander zu verbinden.

Unteilbarkeit

So abstrakt dieser Begriff auch ist, er verweist dennoch auf eine furchtbare Realität: Ein Viertel der Menschheit lebt unterhalb der Schwelle sehr großer Armut. Monsieur Despouy, Autor des UN-Berichts über die Menschenrechte und die extreme Armut, hat zum Anlass der Feier des 50. Jahrestages der Menschenrechte appelliert: "Ich dachte einmal, dass die größte Tragödie der Menschheit der Krieg sei. Tatsächlich ist es jedoch die Armut. Sie schafft ebenso viele Tote, wenn nicht sogar mehr, wie Kriege und Konflikte."

Die Autoren der Menschenrechtserklärung haben dies geahnt, indem sie die Pflicht zur Brüderlichkeit an den Anfang des Textes stellten und dazu einige ökonomische, soziale und kulturelle Rechte neben den zivilen und politischen Rechten aufzählten. Darüber hinaus sind die beiden entsprechenden Pakte der UN anfangs als komplementär und untrennbar erwogen worden. Die Trennung haben erst die Staaten verursacht, die in einer selektiven Art und Weise nur einen der Pakte ratifizierten und sich der Schaffung von Kontrollmechanismen widersetzten. Daher sind die Kontrollen in beiden Bereichen heute sehr unsymmetrisch.

Wirkliche Korrektive bestünden in einer direkten Verbesserung der Kontrollmechanismen. Auf regionaler Ebene müsste man sich gleichzeitig auf die ökonomischen Strukturen, die juristische Normen zu produzieren beginnen, und auf die Instrumente zum Schutz der Menschenrechte stützen. So arbeitet die EU bereits mit dem europäischen Menschenrechtsgerichtshof zusammen. Ähnliche Mechanismen könnten in Lateinamerika zwischen der amerikanischen Konvention der Menschenrechte und Mercosur bzw. Alena geschaffen werden.

Auf globaler Ebene würde diese Logik eine Koordination zwischen der Welthandelsorganisation (WTO) und den UN erfordern. Die WTO hat jedoch unter Hinweis auf ihre Nichtzuständigkeit die Umsetzung einer Sozialklausel an die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) weitergegeben. Im Rahmen der UN hat der Sicherheitsrat 1985 einen Ausschuss für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte ins Leben gerufen.

Die Widerstände aller Arten sind jedoch stark, und allenthalben besteht die Gefahr, dass die Umsetzung der zivilen und politischen Rechte zugunsten der ökonomischen Entwicklung zurückgestellt werden könnte. Dennoch handelt es sich, wie es die Deklaration von 1996 über die ökonomische Entwicklung vorgibt, um einen globalen Prozess. Allen Rechten muss eine gleiche Aufmerksamkeit zuteil werden, und sie müssen mit gleicher Wichtigkeit anvisiert werden. Der Doyen Bettati hat dies am bildhaftesten unterstrichen: "Jemandem einen Wahlzettel zubilligen, der am Verhungern ist, ist sicherlich Betrug. Aber Folter und das gewaltsame Verschwinden von Menschen haben noch nie den Mais oder den Reis schneller wachsen lassen."

In diesem Sinne ist eine Garantie der Unteilbarkeit auch die Bedingung dafür, dass die Menschenrechte wirklich als ein gemeinsames Ideal anerkannt werden.

Ein gemeinsames Ideal

Das Wort "gemeinsam", dem Anschein nach so bescheiden, ans Alltägliche erinnernd, birgt in sich selbst einen der Schlüssel für die Zukunft der Menschenrechte. "Gemeinsam" will nicht "einheitlich" sagen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Geschichte wäre eine einheitliche Konzeption der Menschenrechte inakzeptabel. Eine solche würde das Risiko der Hegemonie einer Kultur enthalten oder die Gefahr der imperialen Ausbreitung eines dominanten Systems, wie es das Beispiel der ökonomischen Globalisierung zeigt.

Auf der anderen Seite darf die Angst vor einem solchen Imperialismus nicht dazu führen, die Idee der "Menschenfamilie" der Präambel der Deklaration zu verneinen. Die "universelle" Deklaration besagt, dass alle Menschen ihre Zugehörigkeit zur selben Menschheit gemeinsam haben - wissend, dass diese Menschheit sich im Singular und im Plural dekliniert.

Im Singular, da wir entsprechend dem Prinzip der gleichen Würde aller Menschen tatsächlich alle derselben Menschheit zugehörig sind, aber auch im Plural. Es war Hannah Arendt, die schrieb: Es ist nicht "der Mensch", sondern es sind die Menschen, die die Erde bewohnen. Nun haben diese Menschen im Laufe ihrer Geschichte unterschiedliche kulturelle Traditionen angenommen. Daher die Idee des Pluralismus in den Menschenrechten.

Man muss ihr zustimmen. Die Eroberung der Menschenrechte ist nicht nur ein evolutiver Prozess, sondern auch ein heterogener. Sie beinhaltet etwas Relatives und setzt die Hinnahme bestimmter Unterschiede voraus. Man muss sich nicht um deren Beseitigung bemühen, sondern darum, sie kompatibel zu machen. Diese Idee, juristisch ausgedrückt in dem Begriff der "nationalen Marge der Beurteilung", muss besser nutzbar gemacht werden. Man muss lernen, sich ihrer zu bedienen.

Aber die Eroberung der Menschenrechte beinhaltet auch etwas Absolutes. Es ist notwendig, unübertretbare Grenzen zu ziehen, die sich juristisch unantastbare Rechte und unverjährbare Verbrechen nennen. Diese müssen anwendbar gemacht werden.

Unterschiede kompatibel machen

Paradoxerweise wird die Aufgabe, die Differenzen kompatibel zu machen, durch die von den Juristen oft kritisierte Ungenauigkeit der für die Definition der Menschenrechte verwendeten Begriffe erleichtert. Was zum Beispiel heißt Recht auf privates Leben? Was ist ein normales Familienleben: Worin besteht das Recht auf Wohnung?

Unpräzise sind auch die erlaubten Einschränkungen gehalten - zum Beispiel die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit - sowie deren Ziele wie etwa die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder des ökonomischen Wohlergehens des Landes, mit denen diese Beschränkungen gerechtfertigt werden.

Diese Ungenauigkeit erlaubt die Anwendung der Menschenrechte in sehr unterschiedlichen politischen, kulturellen und ökonomischen Kontexten, weil sie eine Interpretationsmarge für die juristischen und anderen Organe einführt, die die Menschenrechte auf nationaler, regionaler, oder globaler Ebene umzusetzen haben.

Aber das Recht hat Horror vor dem Vagen und Ungenauen. Tatsächlich kann die Ungenauigkeit der Norm zu ihrer Wirkungslosigkeit führen und der Willkur des Richters Tür und Tor öffnen. Die Antwort hierauf ist eine doppelte: Einerseits bedeutet die "nationale Marge der Beurteilung" nicht eine "souveräne Beurteilung durch die Staaten". Sie impliziert eine bestimmte Kontrolle der Menschenrechte. Die Mechanismen und Kriterien, die zu einer Weiterentwicklung der Marge der Beurteilung führen können, müssen präzisiert werden (das heißt, die Schwelle der Toleranz muss genau gefasst sein). Andererseits muss das Gegenstück der Marge der nationalen Gerichte ein Mehr an Transparenz in der Motivation der Entscheidungen und ein Mehr an Genauigkeit sein: Die Richter müssen ihre Entscheidungen eindeutig formulieren und von einem Fall zum anderen dieselben Kriterien anwenden.

Summa summarum sind wir nicht sehr weit von dem Begriff der "vernünftigen Meinungsverschiedenheit" eines Rawls oder eines Ricoeur entfernt, der auf eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Menschen oder zwei Völkern verweist, die, auf unterschiedlichen Wegen, einen Sinn von Gerechtigkeit und eine Konzeption des Guten entwickelt haben.

Nach Paul Ricoeur besteht die Weisheit darin, vorsichtige Kompromisse zu entwickeln. Dabei geht es weniger darum, das Gute vom Schlechten oder das Schwarze vom Weißen zu scheiden, sondern das Graue vom Grauen oder, im tragischen Falle, das Schlimme vom Schlimmsten.

Dennoch gibt es in der Frage der Menschenrechte Grenzen des Kompromisses. Es ist notwendig, unübertretbare Linien zu ziehen. Diese zu überschreiten würde zu einer im wahren Sinne des Wortes sinnlosen Negation dessen führen, was der Menschheit Sinn verleiht. Die Menschenrechte beinhalten also etwas Absolutes.

Es ist kein Zufall, dass die Notwendigkeit, solch unüberschreitbare Grenzen zu definieren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auftauchte, der ein doppeltes Verbot zur Folge hatte: das Verbot, das sich an Staaten richtet, bestimmte Rechte zu stören, und das Verbot, das sich an Individuen richtet, bestimmten Werten zuwiderzuhandeln.

Die unantastbaren Rechte sind absolut zu schützen in einer Weise, in die weder eine Störung - selbst im Kriegsfall - noch Ausnahmen oder Begrenzungen zulässt. Tatsächlich kommt in ihnen das Menschsein des Menschen zum Ausdruck. Das Recht auf Leben ist nicht darunter. Im Falle eines Krieges oder legitimer Verteidigung ist es erlaubt zu töten. Aber das Recht auf die gleiche Würde aller Menschen, auf das sich das Verbot der Folter, der Sklaverei, der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gründet, darf niemals zurückgedrängt werden, auch im Kriegsfalle nicht.

Bis heute sind die Anfragen zu diesen unantastbaren Rechten an den Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen worden. Aber es wäre dringend notwendig, das Statut dieser unantastbaren Rechte zu komplettieren und zu präzisieren. Tatsächlich schützen diese Rechte, im Unterschied zu anderen Rechten, gleichzeitig das Individuum und die gesamte Menschheit. Sie schützen nicht nur die Würde jedes Einzelnen in der Verlängerung seines Lebens und seiner Freiheit, sondern auch die Würde der gesamten menschlichen Familie.

Unverjährbare Verbrechen

Die Verletzung unantastbarer Rechte ist kein ordinäres Verbrechen. Sie ist ein wirkliches Verbrechen gegen die Menschheit. Juristisch befinden sich die beiden Begriffe in unterschiedlichen Sphären. Die Verbindung wird jedoch schon bei der Verfolgung eines Staatschefs auf Grund von Verbrechen gegen die Menschlichkeit offensichtlich. Aus diesem Grund kommt der Auslieferung des Generals Pinochet und der Anschuldigung des Präsidenten Milosevic ein solches Gewicht zu.

Aber der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit sucht sich noch. Er löst sich allmählich von dem Begriff des Kriegsverbrechens, ohne dass wir zu einer wirklichen Definition gelangt sind. Ich frage mich, ob wir es nicht auch mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun haben, wenn es sich nicht um die Ausrottung, sondern um die "Produktion" menschlicher Gruppen - mit dem Risiko der Instrumentalisierung des Menschen durch Eugenik (Übermensch), Artenkreuzung (Untermensch) oder Klonen - handelt.

Vorausblickend möchte ich eine Definition dieser Menschlichkeit vorschlagen, die dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu Grunde liegt. Die Menschlichkeit scheint sich am Schnittpunkt zweier untrennbarer Achsen zu befinden: der Achse der Einzigartigkeit jeden menschlichen Wesens und der Achse der gleichen Zugehörigkeit zur Menschenfamilie. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit dekliniert sich entlang jeder dieser beiden Achsen.

Das Statut des internationalen Strafgerichtshofes zielt diesbezüglich in erster Linie auf den Genozid, der die Intention beinhaltet, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder in Teilen zu vernichten, was heißt, jedes Mitglied dieser Gruppe auf seine Gruppenzugehörigkeit zu reduzieren. Hier handelt es sich um eine Verletzung des Prinzips der Singularität eines jeden Menschen. Und wir können uns fragen, ob das systematische Klonen nicht auf Grund desselben Verstoßes verboten werden müsste.

Im Gegenatz dazu fallen Apartheid und Sklaverei eher in den Bereich der Achse der gleichen Würde aller Menschen. In derselben Logik müsste das Verbrechen gegen die Menschlichkeit alle Praktiken zur systematischen Schaffung von Über- oder Untermenschen durch Eugenik oder Artenkreuzung umfassen.

Schließlich müsste das Verbrechen gegen die Menschlichkeit die allen Kulturen gemeinsame Grenze sein, die Grenze, die trotz des Pluralismus - aber auch in dessen Namen - den nicht mehr zu überschreitenden Punkt markiert. Dabei geht es nicht um das bloße biologische Überleben unserer Art. Denn ob sie zur physischen Vernichtung führen oder nicht, die so als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definierten Praktiken bergen in sich, was man mangels besserer Worte "eine metaphysische Vernichtung" nennen könnte, das heißt, die Negation der Anstrengungen, durch die der Mensch seine eigene Menschlichkeit konstruiert.