Neue Züricher Zeitung 16.8.1999

Einführung internationaler Schiedsgerichtsbarkeit

Verfassungsänderung in der Türkei

paz. Istanbul, 13. August

Die türkische Nationalversammlung hat am Freitag der Änderung mehrerer Verfassungsartikel zugestimmt, welche die Einführung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit bei privatrechtlichen Verträgen zwischen der Regierung oder Staatsbetrieben mit ausländischen Partnern ermöglicht. Ebenso wird die Privatisierung neu in der Verfassung verankert, und die Kompetenzen des obersten administrativen Gerichts, das bisher für alle öffentlichen Verträge zuständig war, werden beschnitten. Die Schiedsgerichtsbarkeit gehört zu den Bedingungen des Internationalen Währungsfonds, damit die Türkei im Herbst ein Darlehen in der Höhe von 5 Mrd. $ erhalten kann. Nach der Bankenreform macht die Regierung nun einen weiteren wichtigen Schritt zur Gewährung dieser Finanzmittel. Die Neuerungen im Sozialwesen werden gegenwärtig im Parlament diskutiert.

Die Verfassungsänderung wurde erst möglich, nachdem die Regierungskoalition vor einer Woche die oppositionelle islamistische Tugendpartei für die Vorlage gewinnen konnte. Im Gegenzug erreichten die Islamisten, dass das Gesetz über politische Parteien geändert und ein ihr drohendes Schliessungsverfahren dadurch weniger wahrscheinlich wurde. Auch soll der Führer ihrer Vorgängerpartei Refah, der ehemalige Premierminister Erbakan, in die Politik zurückkehren dürfen. Viele Politiker und Kommentatoren sehen in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit eine Einschränkung der staatlichen Souveränität und erinnern an die Konzessionen, die Ausländer im späten Ottomanischen Reich einer separaten Rechtsprechung unterstellten.

Von der neuen Verfassungsgrundlage, die noch durch die entsprechenden Gesetze ergänzt werden muss, wird ein deutlicher Anstieg der Privatisierungen erwartet. Vor allem im Energiebereich, wo ein riesiger Investitionsbedarf von gegen 5 Mrd. $ pro Jahr besteht, werden ausländische Investitionen benötigt, weil die Regierung unmöglich allein dafür aufkommen kann. Nach Angaben des Energieministeriums warten gegenwärtig 64 Projekte im Energiesektor im Gesamtwert von 12,9 Mrd. $ auf internationale Finanzierungen. In den vergangenen 15 Jahren erhielt Ankara insgesamt nur 5 Mrd. $ aus Privatisierungen; Experten erwarten nun, dass die Regierung alleine in den nächsten zwei Jahren 4 Mrd. $ aus Privatisierungen lösen wird.