Frankfurter Rundschau, 14.08.1999

Der Hodscha kann hinter den Kulissen hervortreten

Türkischer Islamisten-Führer Erbakan darf nun auch offiziell wieder Politik treiben

Sonderlich ernst genommen hat Necmettin Erbakan, einst türkischer Regierungschef und Vorsitzender der islamistischen Wohlfahrtspartei, das im vergangenen Jahr gegen ihn verhängte politische Berufsverbot nie. Hinter den Kulissen zog er weiterhin die Fäden. Jetzt darf er auf die politische Bühne zurückkehren.

Ein Jahr lang, von Mitte 1996 bis zum Sommer 1997, regierte der Islamist Erbakan als türkischer Premier. Dann war die Geduld der Militärs, die in religiösen Umtrieben eine Gefahr für die weltliche Verfassungsordnung sehen, am Ende. Erst drängten sie Erbakan aus dem Amt, dann veranlassten sie ein Verbotsverfahren gegen dessen Wohlfahrtspartei, die aus den Wahlen vom Dezember 1995 mit 23 Prozent als stärkste Gruppierung hervorgegangen war. Im Januar 1998 wurde sie auf Beschluss des Verfassungsgerichts verboten. Erbakan und fünf weitere führende Funktionäre verurteilte das Gericht zu fünfjähriger politischer Abstinenz.

Erbakan zeigte sich unbeeindruckt: die Zwangsauflösung der Partei werde nur dazu führen, "dass man ein neues Schild an der Tür anbringt", sagte er. Auf dem neuen Schild steht "Fazilet Partisi", Tugend-Partei (FP). Erbakan ist ihr heimlicher Vorsitzender. In wenigen Monaten wird man dem "Hodscha", dem Großen Lehrer, als den ihn seine Anhänger verehren, womöglich auch wieder im Parlament begegnen. Ende dieser Woche billigte die Nationalversammlung eine Gesetzesänderung. Danach könnte Erbakan bei den nächsten Wahlen als Unabhängiger kandidieren. Der nächste Urnengang ist regulär zwar erst 2004 fällig. Aber wenn mindestens ein Fünftel der Sitze vakant wird, müssen Nachwahlen stattfinden. Die könnten Erbakans Getreue herbeiführen, indem sie ihre Mandate niederlegen.

Hintergrund der Novelle ist eines der in der Türkei üblichen politischen Tauschgeschäfte: die Regierungsparteien ermöglichen Erbakan die Rückkehr ins Parlament, dafür helfen die Islamisten, eine Verfassungsänderung zu verabschieden, die Wirtschaftsreformen ermöglichen soll.

Aber ob der 73-jährige Erbakan je wieder eine dominierende Rolle in der türkischen Politik spielen wird, scheint zweifelhaft. Die Tugend-Partei erzielte bei der jüngsten Wahl magere 15 Prozent. Gemäßigte Reformer und die alte Garde der orthodoxen Islamisten, die Erbakan anführt, ringen um die Macht. Vier den Reformisten zugerechnete Spitzenfunktionäre verließen die Partei Ende Juli und wurden von Erbakan-Gefolgsleuten ersetzt.

Der Tugend-Partei stehen stürmische Zeiten bevor. Vor dem Verfassungsgericht ist bereits das nächste Verbotsverfahren anhängig, und diesmal sollen, anders als nach der Auflösung der Wohlfahrtspartei, auch alle FP-Abgeordneten ihre Mandate verlieren. Denkbar wäre mithin das Kuriosum, dass der "Unabhängige" Erbakan als einziger Islamist im Parlament säße. Aus dem Schneider ist allerdings auch der Hodscha noch nicht. Gegen ihn laufen noch zwei Strafverfahren, eines wegen Volksverhetzung und ein zweites wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten bei der Wohlfahrtspartei. Und unabhängig davon werden wohl die Generäle dafür sorgen, dass Erbakan keine Hauptrolle auf der politischen Bühne mehr übernimmt. (öhl)