Stuttgarter Zeitung, 12.08.99

Kurdenfamilie fürchtet bei Abschiebung Folter oder Tod

Flüchtlingspfarrer und Pro Asyl fordern Aussetzung der Abschiebungen - Engagierte Christen erwägen Angebot von Kirchenasyl

NEUHAUSEN. Eine in Ostfildern lebende kurdische Flüchtlingsfamilie fürchtet Folter, Verfolgung oder gar den Tod, wenn sie in die Türkei abgeschoben wird. Kirchengemeinden erwägen, den Betroffenen notfalls Kirchenasyl zu gewähren.

Von Ralph Zimmermann

Im Jahr 1992, erzählt Meral Picak, sei ihr Bruder, der als Schneider für die PKK tätig gewesen sei, zunächst verhaftet und dann, angeblich auf der Flucht, getötet worden. Bei der Beerdigung verschwand der Ehemann der Kurdin spurlos. Meral Picak gibt an, sie selbst sei anschließend mehrfach von türkischen Behörden tagelang festgehalten und gefoltert worden, bevor sie mit Hilfe eines Schleppers zusammen mit einer Tochter nach Deutschland gelangte.

Ihr Mann Izzet konnte seiner Familie erst zwei Jahre später in die Bundesrepublik folgen. Zuvor, erzählt seine Frau, sei er unter Folter dazu erpresst worden, über seine politischen Freunde auszusagen. Der schweigsame Mann ist noch heute vom erlittenen Foltertrauma gezeichnet, inzwischen befindet er sich deswegen in Behandlung bei der Stuttgarter Fachberatung Refugio.

Bisher haben sich die Picaks erfolglos um Anerkennung als Flüchtlinge bemüht. In einem ersten Verfahren hatten sie sämtliche Instanzen, bis hin zum Verwaltungsgerichtshof, durchlaufen. Inzwischen ist es den Flüchtlingen angeblich gelungen, Originaldokumente aus der Heimat aufzutreiben, die ihre Verfolgung belegen. Zur Zeit läuft, im Auftrag des Verwaltungsgerichts, eine "Echtheitsprüfung" durch das Auswärtige Amt, bei der festgestellt werden soll, ob die Dokumente tatsächlich authentisch sind.

Werner Baumgarten, evangelischer Asylpfarrer und Sprecher des Stuttgarter Arbeitskreises Pro Asyl, ist davon überzeugt, dass die Picaks die Wahrheit sagen. Für Baumgarten jedenfalls kommt dem Schicksal der Kurdenfamilie ein "paradigmatischer Charakter" zu. "Fast täglich" werde er mit vergleichbaren Schicksalen konfrontiert. Für Kurden sei es selten so gefährlich gewesen wie derzeit, abgeschoben zu werden. Eine von Pro Asyl zusammengestellte Dokumentation führt 20 Fälle von Kurden an, die nach ihrer Abschiebung erneuter Verfolgung ausgesetzt gewesen seien.

Dass Kurden außerhalb ihres Herkunftsgebiets, also im Westen der Türkei, sicher seien, hält Baumgarten für widerlegt. Ausweisungen, die sich auf diese "innerstaatliche Fluchtalternative" stützten, seien deshalb nicht vertretbar. Izzet Picak, der eine Zeitlang unter falschem Namen im Westen der Türkei untergetaucht war, würde sich dort heute nach eigenen Angaben eher noch mehr bedroht fühlen als in seiner Heimatstadt Diyabakir im Kurdengebiet. Bei einer Abschiebung fürchten die Picaks in jedem Fall Verfolgung, zumal sie in Deutschland weiter für die Kurdenorganiation PSK tätig sind, die sich Meral Picak zufolge friedlich für eine Autonomie der Kurden einsetzt.

Aus Sicht von Pro Asyl ist die Zukunft der kurdischen Minderheit in der Türkei seit dem Todesurteil gegen PKK-Chef Öcalan völlig unvorhersehbar. Werner Baumgarten hält eine Begnadigung Öcalans und eine Anerkennung kurdischer Minderheitsrechte für denkbar, aber auch die Vollstreckung des Urteils und einen Genozid, vergleichbar der Verfolgung der Kosovo-Albaner. Abschiebungen sollten angesichts der ungeklärten Situation zurückgestellt werden, appelliert Pro Asyl daher an Innenminister Schäuble.

Gegen eine Abschiebung von Izzet Picak, der längst eine Arbeit gefunden hat und seine Familie ohne Sozialhilfe ernähren kann, spricht zudem laut Baumgarten, dass der Kurde dann die begonnene Aufarbeitung seines Foltertraumas abbrechen müsste. Die Neuhausener evangelische Kirchengemeinderätin Regine Beck-Merling fürchtet zudem um die drei Kinder der Familie, zehn und zwölf Jahre alt, die sich dann mit neuer Unsicherheit auseinander setzen müssten, nachdem sie die seelischen Auswirkungen der Flucht eben etwas überwunden hätten.

Der evangelische Kirchengemeinderat hat inzwischen einen "Grundsatzbeschluß" für die Gewährung von Kirchenasyl gefasst, konkrete Schritte will man sich aber erst überlegen, wenn die Kurdenfamilie mit ihrem Asylantrag erneut scheitert. Sollte den Picaks die Abschiebung drohen, werden sich möglicherweise auch die Katholiken dem Kirchenasyl anschließen. Ein Votum der Laienvertretung steht aber noch aus.