Die Welt, 10.8.

Ankara entlässt türkischen Sozialistenführer aus der Haft

Europarat hatte Freiheit für Perincek gefordert

Von Dietrich Alexander

Berlin/Ankara ­ Die Türkei ist Mitglied im Europarat und als solches verpflichtet, die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg zu befolgen. Dessen mag man sich in Ankara erinnert haben, als am Montag der frühere Chef der inzwischen verbotenen türkischen Sozialistischen Partei (SP), Dogu Perincek, nach zehnmonatiger Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde ­ zehn Tage, nachdem auch der Europarat die Türkei zur Freilassung von Perincek aufgefordert hatte.

Der 57-Jährige war am 15. Januar 1993 zu 14 Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 8000 Mark wegen "Gefährdung der Einheit der Nation" und "Separatismus" verurteilt worden. Seine Partei war bereits vorher verboten worden. Doch obwohl der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg das Parteiverbot für rechtswidrig erklärt hatte, wurde es aufrecht erhalten und das Urteil gegen Perincek im vergangenen Jahr vollstreckt.

1988 sah der Sozialist Perincek die Zeit für "radikale politische Lösungsvorschläge" gekommen und gründete im Februar seine SP. Es war die erste sozialistische Partei seit dem Militärputsch von 1980.

Einen "pluralistischen Sozialismus" hatte Perincek im Sinn. Eine umfassende Landreform im unterentwickelten Anatolien, die Verstaatlichung von Großindustrie, Banken und Versicherungen, Nationalisierung ausländischen Kapitals und schließlich den Austritt aus der Nato waren im Parteiprogramm festgeschrieben. Der "gläserne Abgeordnete" sollte nicht mehr verdienen als ein türkischer Arbeiter und am Ende seiner Amtszeit seine Vermögensverhältnisse offen legen. Die Todesstrafe sollte abgeschafft und die 35-Stunden-Woche eingeführt werden.

Sie war alles in allem eher naiv als staatsgefährdend, und doch dauerte es keine zwei Wochen, bis die SP auf dem Index des Generalstaatsanwalts stand. Der sah die "Existenz des türkischen Staates und der republikanischen Staatsform" gefährdet. Aber erst 1991 nagelten die Behörden Perincek fest: In einer Fernsehdiskussion sprach er sich für das Zusammenleben von Türken und Kurden auf "freiwilliger Basis" aus. Damit erfüllte er nach Ansicht des Gerichts den Straftatbestand des "Separatismus", den der berüchtigte Artikel 8 des Anti-Terror-Gesetzes regelt, und wurde verurteilt.