Frankfurter Rundschau 7.8.99

Sprung über den eigenen Schatten

Die Friedensappelle der PKK-Führung bringen die eigenen Anhänger und die Politiker in Ankara in Zugzwang

Von Gerd Höhler

Als PKK-Chef Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali am Montag seinen Anwälten den neuesten Friedensappell aushändigte, war Harold Hongju Koh gerade unterwegs in Südostanatolien. Auf einer ausgedehnten Reise durch die kurdischen Provinzen wollte sich der für Menschenrechtsfragen zuständige Staatssekretär im US-Außenministerium ein eigenes Bild von der Lage verschaffen. Zurück in der türkischen Hauptstadt Ankara, berichtete Koh am Donnerstag vor der Presse über seine Eindrücke. Was der Reisende erzählte, dürfte den Gastgebern nicht sonderlich gefallen haben. Eine "rein militärische Lösung der Probleme der Region" könne es nicht geben, meinte Koh. Vielmehr bedürfe es eines "Dialogs, eines politischen Prozesses, in dem die Rechte aller türkischen Staatsbürger vollauf respektiert" werden müssten. An die Politiker in Ankara appellierte der Gast, der "kurdischen Gemeinschaft" den freien Gebrauch ihrer Sprache, die Gründung politischer Parteien und die "Vertretung ihrer Interessen" zu gestatten.

Koh kann von Glück sagen, dass er US-Bürger ist und darüber hinaus diplomatische Immunität genießt. Würde ein türkischer Menschenrechtler derlei Gedanken äußern, träten unweigerlich die Staatsanwälte in Aktion, eine Anklage wegen "separatistischer Propaganda" wäre zu erwarten. Schon wegen weniger brisanter Meinungsäußerungen sind in der Türkei Journalisten, Schriftsteller und kurdische Bürgerrechtler zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Allein im ersten Halbjahr 1999 wurden in der Türkei 55 Journalisten inhaftiert oder zu einer Haftstrafe verurteilt. "Die höchste Zahl in der Geschichte der türkischen Presse", wie der Vorsitzende des türkischen Presserates, Oktay Eksi, kritisiert. Ernüchternd fiel auch die jüngste Bilanz des türkischen Menschenrechtsvereins aus. Allein im Monat Juni wurden 36 Fälle schwerer Folter bekannt - die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher. Sechsmal wurden Fernseh- und Rundfunksender von den Behörden geschlossen, elf Publikationen verboten, 27 Zeitungen und Zeitschriften beschlagnahmt. Außerdem wurden drei Bücher konfisziert und drei Journalisten verhaftet.

Staatssekretär Koh formulierte es freundlich: das Land sei "reif für Reformen". Ob beim Verzehr einer Wassermelone mit kurdischen Dorfbewohnern in den Bergen von Südostanatolien oder beim festlichen Abendessen mit türkischen Geschäftsleuten hoch über den Dächern Istanbuls, immer hätten seine Gesprächspartner dasselbe Thema zur Sprache gebracht: Demokratie und Menschenrechte.

Sicher ist eines: die Politiker in Ankara geraten allmählich in Zugzwang. Das zeigen nicht nur die Mahnungen des US-Staatssekretärs Koh. Ob wir wirklich vor einem "Wendepunkt in der Geschichte des kurdischen und des türkischen Volkes" stehen, wie am Donnerstag die Führung der kurdischen Arbeiterpartei PKK verkündete, weiß noch niemand mit Sicherheit zu sagen. Auch in der Kurdenfrage gibt es Entwicklungen, die man in Ankara nicht länger ignorieren kann. Nach Abdullah Öcalan, der Anfang der Woche seine Kämpfer aufforderte, "um des Friedens willen" die Waffen niederzulegen und sich aus der Türkei zurückzuziehen, appellierte jetzt auch der PKK-Führungsrat an die kurdischen Rebellen, den bewaffneten Kampf einzustellen.

Unklar ist, welche praktischen Auswirkungen diese Aufrufe haben werden. Nach Erkenntnissen der türkischen Armee halten sich in den Bergen Nord-Iraks noch etwa 3 500 und in der Türkei selbst rund tausend PKK-Rebellen auf. Andere Schätzungen gehen in die Größenordnung von fünf- bis siebentausend. Unstrittig ist: die Guerilla ist geschwächt. Die wiederholten Offensiven der türkischen Armee in Nord-Irak haben ihr erheblich zugesetzt. Verbündete hat die PKK dort überdies nicht mehr, seit die beiden irakischen Kurdenfraktionen jetzt ihre Absicht bekräftigten, Öcalans Rebellen aus der Region zu vertreiben. Ob die hoffnungslos in die Defensive geratenen PKK-Kommandeure den Appellen Öcalans und des Führungsrates folgen, ist dennoch ungewiß. Und selbst wenn: eine Kapitulation, wie man sie aus Öcalans Aufruf herauszulesen glaubte, steht offenbar für viele in der PKK nicht zur Diskussion. Die Rebellen würden keineswegs die Waffen strecken, sondern sich nur vorübergehend zurückziehen, sagte Turan Demir, Chefredakteur des PKK-nahen kurdischen Exil-Fernsehsenders Medya TV in Brüssel. Nur bewaffnet seien die PKK-Kämpfer "eine Garantie für den Frieden", nur bewaffnet könnten sie die Türkei "auf den Weg zum Frieden zwingen", meint Demir.

Doch solche markigen Sprüche gehen ebenso an der Realität vorbei wie die nun wieder gebetsmühlenartig heruntergeleierte Formel der Politiker in Ankara, mit Terroristen könne es keine Verhandlungen geben. "Natürlich werden alle froh sein, wenn der Terror zu Ende ist", sagte Ministerpräsident Bülent Ecevit, "aber wir werden mit niemandem darum feilschen." Immerhin: Ecevit schien eine Hintertür offen halten zu wollen. Man müsse nun einmal abwarten, welche Wirkung die Friedensappelle hätten; zu einer Beendigung des Terrors müßten "alle Beteiligten" ihren Beitrag leisten.

Die PKK kommt Ankara entgegen. Ihr früher propagiertes Ziel eines eigenen Kurdenstaates hat sie längst abgeschrieben. Auch von politischer Selbstverwaltung ist in den jüngsten Erklärungen nicht mehr die Rede. In ihrem am Donnerstag veröffentlichten Appell fordert die PKK-Führung die türkische Regierung lediglich auf, den Friedensvorstoß mit "Einfühlungsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und Respekt" zu beantworten. Das hört sich an, als bitte man um die Chance auf eine ehrenvolle Kapitulation. Die PKK ist nicht nur militärisch am Ende, sie ist auch politisch bescheiden geworden. Für die Politiker in Ankara wäre es deshalb jetzt ohne Gesichtsverlust möglich, einen Kurswechsel in der Kurdenpolitik einzuleiten. Sie müßten dazu allerdings über ihren eigenen Schatten springen - und das scheint ihnen sehr schwer zu fallen.

Abdullah Öcalan identifizierte während seines Prozesses das in den Massenmedien und Schulen geltende Verbot der kurdischen Sprache als eines der Kardinalprobleme. Das, so sagte er, werde von den Kurden als unerträgliche Repression empfunden und habe seiner PKK Zulauf verschafft. Doch gerade in der Frage des Sprachverbots scheint die Regierung zu keinerlei Konzessionen bereit. Das zeigte jetzt der Fall des Abgeordneten Mehmet Fuat Firat. Der Parlamentarier der islamistischen Tugend-Partei hatte in seiner offiziellen Biografie unter der Rubrik Fremdsprachen neben Arabisch und Persisch auch Kurdisch genannt. Das rief die rechtsextremistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) auf den Plan, einen Koalitionspartner von Ministerpräsident Ecevit. Beim Parlamentspräsidium setzte sie die Streichung des Wortes "Kurdisch" aus der Biografie des Abgeordneten Firat durch. Eine solche Sprache, befand man, gebe es gar nicht.