Hannoversche Allgemeine Zeitung 7.8.99

...und in Istanbul wartet die Polizei

Hannover/Düsseldorf. Am frühen Morgen um Viertel nach vier klopft es an der Tür von Sidika Ötztekin. Vor dem kleinen Zimmer des Laatzener Flüchtlingswohnheims stehen Polizisten in Zivil und Vertreter der Bezirksregierung Hannover, drei Männer und eine Frau. Sie sind beauftragt, die junge Kurdin, ihren Mann und ihre drei Jahre alte Tochter Bercem abzuholen - "zum Zwecke der Abschiebung", wird den Flüchtlingen im Amtsdeutsch mitgeteilt. Sidika Ötztekin ist vorbereitet. Ein Berg von Gepäckstücken türmt sich zwischen Matratzen. Eine kurdische Freundin und ihre beiden Kinder haben der 23-Jährigen in ihrer letzten Nacht in Deutschland Gesellschaft geleistet. Sidika Ötztekins Mann dagegen ist verschwunden. Wohin? Achselzucken. "Er hatte Angst", sagt die Freundin. "Angst vor Folter in der Türkei." Den freundlichen Besuchern von der Bezirksregierung bleibt nichts anderes übrig, als Frau und Tochter allein mitzunehmen. Die kleine Bercem schläft noch im Kinderbett. Weinend protestiert sie, als sie aus dem Schlaf gerissen wird. In allen vier Regierungsbezirken Niedersachsens fahren zu dieser nachtschlafenden Zeit Kleinbusse umher, nehmen so genannte Schüblinge für einen "Sammeltransport" in die Türkei auf. In Deutschland leben nach Angaben des Bundesverwaltungsamts in Köln 545 349 ausreisepflichtige Ausländer, in Niedersachsen allein sind es 42 000. Die meisten werden auf dem Luftweg abgeschoben. Eine Chartermaschine der rumänischen Fluggesellschaft Tarom soll Sidika Ötztekin und ihre Landsleute über Bukarest nach Istanbul ausfliegen. Das Flugzeug startet in Düsseldorf. Der Flughafen Langenhagen wäre näher. Doch während der Urlaubszeit weigern sich viele Reisegesellschaften, Abgeschobene mit in die Türkei zu nehmen - vor allem wegen der vielen Stornierungen. An diesem Tage ist nicht nur Bercems Vater untergetaucht, auch ein Kurde aus Hildesheim hat sich der angekündigten Abschiebung entzogen. Beide werden nun zur Fahndung ausgeschrieben. Sie müssen damit rechnen, in Abschiebehaft genommen zu werden. So wird die kleine Bercem allein mit ihrer Mutter in die Türkei fliegen. Im März 1996, vier Tage nach der Ankunft der Familie in Deutschland, wurde das Mädchen in Langenhagen geboren. Vergeblich hatten sich ihre Eltern seither um Asyl bemüht. Bercems Vater berief sich darauf, wegen prokurdischer Aktivitäten immer wieder in der Türkei verhaftet worden zu sein. Doch die deutschen Richter sahen keinen triftigen Asylgrund. Bekir Ergen sei doch immer wieder nach wenigen Tagen freigekommen, argumentierten sie. So groß könne die Gefährdung also wohl nicht sein. Wie groß die Angst vor Haft und Folter in der Heimat sein kann, zeigt ein Vorfall, der an diesem Abschiebevormittag auf der Autobahn 2 bei Recklinghausen einen langen Stau nach sich zieht. Ein 22 Jahre alter Kurde, ebenfalls auf dem erzwungenen Weg nach Istanbul, hat sich mit seinem Feuerzeug im Auto angezündet und lebensgefährliche Verbrennungen zugefügt. Ein Rettungshubschrauber fliegt ihn ins nächstgelegene Krankenhaus. Unangemeldet hatten Mitarbeiter der Ausländerbehörde des Kreises Warendorf den abgelehnten Asylbewerber am frühen Morgen von seiner Arbeitsstelle abgeholt und in Handschellen Richtung Düsseldorf befördert. Auch die Kurden aus Niedersachsen geraten in den Stau, den der "Zwischenfall" nach sich zieht. Gut sieben Stunden nach dem Erwachen im Wohnheim ist die kleine Bercem schließlich endlich mit ihrer Mutter am Flughafen Düsseldorf angekommen. Ausgelassen spielt die Dreijährige mit den Polizistinnen in Zivil und jauchzt so gut gelaunt, als stünde ihr eine Urlaubsreise bevor. Bercems Mutter raucht unterdessen gedankenverloren eine Zigarette. Ihr Bruder werde sie am Flughafen in Istanbul abholen, sagt sie. Angst habe sie dennoch. Ganz unterschiedlich sind die Erwartungen der vielen Menschen, die nach und nach zumeist in Kleinbussen vor dem Sonderabfertigungs-Terminal in Düsseldorf angekarrt werden. Über die Außenstelle der Bezirksregierung Hannover in Langenhagen sind auch zwei Abschiebehäftlinge aus der Justizvollzugsanstalt Hannover auf den Weg gebracht worden. Der eine freut sich geradezu auf die Rückkehr in die Türkei. Dabei war der 32-Jährige, der wegen Drogenhandels im Gefängnis saß, gerade ein Jahr alt, als seine Eltern 1968 mit ihm nach Deutschland kamen - türkische Gastarbeiter, die sich von dem Geld, das sie in Deutschland verdienten, ein Haus in Izmir bauten. Dorthin will der "verlorene Sohn" nun ziehen. "Warum soll ich mich nicht freuen, dahin zu kommen, wo andere Urlaub machen?" Mit im Bus sitzt ein Kurde, der nicht so freudig gestimmt ist. In Deutschland wegen gefährlicher Körperverletzung inhaftiert, fürchtet der Mann, gleich am Flughafen in Istanbul wieder in Handschellen gelegt zu werden. Besonders quält ihn die Sorge, dass die türkische Polizei von seinen Vergehen in der Bundesrepublik erfahren könnte. Aber die Rückführungs-Beauftragten von der Bezirksregierung versichern, den türkischen Behörden werde kein Sterbenswörtchen von der Vorgeschichte der "Schüblinge" zuteil. Allen sei die Freiheit gewiss. Doch die Zusage ist an eine Bedingung geknüpft, wie die Abgeschobenen später von Beamten des Bundesgrenzschutzes (BGS) erfahren: Nur wer sich im Flugzeug ruhig verhalte, habe nichts zu befürchten. Wer dagegen randaliere, werde am Ende der Reise türkischen Sicherheitskräften übergeben. Im Flugzeug sollen an diesem Tage private Sicherheitskräfte, die die rumänische Fluggesellschaft angeheuert hat, für Ruhe sorgen. Der BGS, seit dem Abschiebungs-Tod eines Sudanesen in der Schusslinie, ist aus dem Schneider. Die Zwangspassagiere indessen sind nun den rumänischen Wächtern ausgeliefert. Mit einer schwarzen Rauchwolke steigt das Schüblings-Flugzeug gegen 13.30 Uhr schließlich leicht verspätet in den blauen Himmel. 52 Passagiere sind an Bord. Zur gleichen Stunde kehrt auf dem Flughafen Langenhagen ein Afrikaner zurück, der bereits von BGS-Beamten bis nach Brüssel begleitet worden war. Dort hatte der Mann von der Elfenbeinküste nach dem Umsteigen in eine zweite Maschine so lange geschrien und um sich geschlagen, bis der Flugkapitän die BGS-Begleiter aufforderte, ihn wieder mit nach Langenhagen zurückzunehmen. Es war bereits der zweite Abschiebeversuch. Ein dritter wird folgen. Am Ende wird die Reise vielleicht über Moskau gehen. Aeroflot-Piloten sollen bei der Aufnahme von Passagieren nicht so pingelig sein. In Istanbul, so ist später zu erfahren, hat der Bruder von Sidika Ötztekin vergeblich auf seine Schwester und seine kleine Nichte gewartet. Niemand im Flughafen kann ihm etwas über den Verbleib der beiden sagen. Wie die Freundin in Laatzen später erfährt, sind Mutter und Tochter gleich nach der Landung in der Türkei festgenommen worden. Sie müssen eine Nacht in Haft verbringen und kommen erst frei, als sie den Polizisten ihr weniges Geld überlassen. Heinrich Thies