Süddeutsche Zeitung 6.8.99

Gnade nach dem Gießkannenprinzip

Mörder sollen in der Türkei amnestiert werden - Staatsgegner nicht

Alle Türken, die von einem Intimfeind mit Ingrimm und Hass verfolgt werden, sollten sich in diesen Tagen lieber in Acht nehmen oder - noch besser - eine Auslandsreise antreten. Denn die Chancen stehen nicht schlecht, dass der Rivale sie gerade jetzt kaltblütig ermordet. Schließlich würde ihm praktisch Straffreiheit für seine Bluttat winken. Sulhi Dönmezer, die graue Eminenz der türkischen Juristen, warnte dieser Tage vor einem Anstieg von Gewalttaten. Tatsächlich gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Schwerverbrechen und der Diskussion über eine Generalamnestie, welche der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit in Gang gebracht hat. Denn wer jetzt einen Menschen totschlägt, kann sich ausrechnen, dass er in ein paar Wochen ebenso in den Genuss der Amnestie kommt wie Täter, die seit Jahren hinter Gittern sitzen.

Dies ist jedoch nur eine von zahlreichen Merkwürdigkeiten, welche die Amnestie-Debatte in der Türkei begleiten. Angestoßen wurde sie ursprünglich von Rahsan Ecevit. Sie ist die Ehefrau des Premiers und außerdem Vize-Vorsitzende seiner "Demokratischen Linkspartei" (DSP). Rahsan und Bülent beriefen sich gleichsam auf eine Familientradition: Während seiner ersten Amtszeit 1974 hatte Ecevit Tausenden von Häftlingen ihre Strafen erlassen. Jetzt könnten Zehntausende von Gefangenen als freie Menschen die Gefängnisse verlassen.

Allerdings wird es eine ganze Reihe von Ausnahmen geben, die das gesamte Projekt ad absurdum führen. Derweil Mörder und Vergewaltiger schon von ihrer neuen Freiheit träumen können, werden sich für Journalisten, Künstler oder Studenten die Gefängnistore nicht öffnen. Sie wurden wegen Delikten gegen den Staat verurteilt. Diese Straftaten, die von den berüchtigten Staatssicherheitsgerichten behandelt werden, sind von jeglicher Amnestie ausgeschlossen.

Hinter dem einschüchternden Begriff verbergen sich fast ausschließlich Meinungsdelikte: Das Verfassen kritischer Zeitungsartikel gehört ebenso dazu wie das Tragen eines Kopftuchs an einer Universität, die religiöse Unterweisung von Minderjährigen, oder das Eintreten für die Rechte für Kurden. Linke Journalisten wie Oral Calislar und Esber Yagmurdereli, islamistische Politiker wie Ex-Premier Necmettin Erbakan und Istanbuls einstiger Bürgermeister Recep Tayyip Erdogan, kurdische Aktivisten wie Leyla Zana oder Hatip Dicle - sie dürfen nicht auf Gnade hoffen. Krasse Ungerechtigkeiten gibt es auch in anderen Bereichen. Da Eigentumsdelikte in der Türkei - ähnlich wie in Deutschland - überdurchschnittlich hart geahndet werden, werden Diebe nicht amnestiert. Wer hingegen Unsummen an öffentlichen Geldern hinterzogen, unterschlagen oder veruntreut hat, gilt lediglich als Betrüger und darf sich auf eine Begnadigung freuen.

Diese Ungereimtheiten haben mittlerweile zwei angesehene Kolumnisten auf den Plan gerufen, die normalerweise politisch nicht gegensätzlicher sein könnten: Sowohl der Kemalist Mümtaz Soysal als auch der Islamist Fehmi Koru kritisierten das offensichtliche Unrecht. Soysal meinte, dass man in erster Linie gerade politische Vergehen amnestieren müsse, wenn man den kurdischen Terror erfolgreich bekämpfen wolle. Koru zog einen Vergleich zwischen Verbrechen gegen Personen auf der einen und jenen gegen den Staat auf der anderen Seite. Da nur Erstere begnadigt werden, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Erst kommt der Staat und dann der Mensch. Wolfgang Koydl