Süddeutsche Zeitung 4.8.99

Die Tagung der unnahbaren Machthaber

Jeden August trifft der Oberste Militärrat der Türkei seine Personalentscheidungen - mit weitreichenden politischen Folgen

Wie viele Deutsche kennen den Namen des Oberkommandierenden der Luftwaffe oder des Admirals, der den Oberbefehl über die Bundesmarine hat? Bestenfalls ist der Generalinspekteur der Bundeswehr ein Begriff; alle anderen Ränge und Kommandos der deutschen Streitkräfte sind den meisten Bundesbürgern nicht nur unbekannt, sondern sogar eher gleichgültig. Anders in der Türkei: Hier gehören solche Informationen zum Allgemeinwissen. Wahlen und Regierungsbildungen mögen hier nicht so ernst genommen werden, aber die jedes Jahr im August stattfindende Sitzung des Obersten Militärrates (YAS) genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit der Türken. Das ist kein Wunder: Das Militär ist der eigentliche Machthaber im Land, und auf der YAS-Tagung werden entscheidende politische Akzente gesetzt. Hier wird die Besetzung der beiden wichtigsten Posten der Republik entschieden: des Generalstabschefs und des Generalsekretärs des Nationalen Sicherheitsrates. Dieses Gremium tritt einmal im Monat zusammen und gibt "Empfehlungen" zur Tagespolitik ab, an die sich die Politiker halten wie an einen Befehl. Oberflächlich betrachtet entscheidet der Oberste Militärrat über Beförderungen und Pensionierungen, über Versetzungen und Demissionen aus den Streitkräften. Besonders aufmerksam wurde in den vergangenen Jahren verfolgt, wie viele Offiziere wegen islamistischer Machenschaften die Uniform ausziehen mussten. In diesem Jahr waren es lediglich 58 Mann - eine verschwindend kleine Zahl in einem Heer von mehr als 30 000 Offizieren. Von einer Unterwanderung der Streitkräfte durch Islamisten kann also keine Rede sein. Im August vergangenen Jahres war General Ismail Hakki Karadayi als Generalstabschef pensioniert worden; jetzt gingen viele seiner Gefolgsleute in den Ruhestand. Vor allem Heereskommandeur Ilhan Kilic, der einmal von sich reden machte, als er eine Frau in aller Öffentlichkeit aufforderte, ihr Kopftuch gefälligst so zu binden, dass es nicht wie ein islamisches Glaubensbekenntnis wirke. Pensioniert wurden auch der Oberkommandierende der Marine, Admiral Salim Dervisoglu, der Chef der Kriegsakademie, General Necati Özgen, der Befehlshaber der Ägäis-Armee, General Ergin Celasin, und der Oberkommandierende der elitären, in Istanbul stationierten ersten Armee, General Cevik Bir.

Unverzeihlicher Fehler Vor allem das Ausscheiden Birs aus dem aktiven Dienst erregte Aufsehen. Denn noch vor einem Jahr wurde er als einer der nächsten Generalstabschefs gehandelt. Doch Bir hatte einen Fehler gemacht, den die radikal egalitären Streitkräfte niemandem verzeihen: Er hatte sich selbst und seinen Namen in den Vordergrund gespielt, anstatt als anonymes Mitglied eines weitgehend gesichtslosen Generalstabs in Reih und Glied zu bleiben. War seine Versetzung nach Istanbul schon als Warnschuss gewertet worden, so kommt die Pensionierung des erst 60-Jährigen einer Abstrafung gleich. Offiziell heißt es zwar, dass Bir streng nach Reglement in den Ruhestand geschickt worden sei, weil er schon vier Jahre lang Vier-Sterne-General gewesen war. Die Armee hat indes immer wieder Ausnahmen von dieser Regel gemacht. Die Maßnahme trägt die Handschrift des seit einem Jahr herrschenden Generalstabschefs Hüseyin Kivrikoglu. Er gilt als Vertreter der Linie, dass die Armee eine Institution und ein Machtfaktor sei, hinter welche die Persönlichkeit des einzelnen Offiziers zurücktreten müsse. Kivrikoglu selbst geht mit gutem Beispiel voran: Anders als sein oft onkelhaft wirkender Vorgänger Karadayi verkörpert er die kalte, unnahbare Macht.

Wolfgang Koydl