HAZ, 27.7.

Leitartikel: Die zweite Chance

Auf den ersten Blick tanzt die deutsche Türkeipolitik gerade "Ball paradox": Union und FDP, zu deren Regierungszeiten Deutschland in Ankara als größter Förderer eines türkischen Beitritts zur Europäischen Union galt, treten als Türkei-Skeptiker auf. SPD und Grüne, die in der Opposition selbst die nur freundlich hinhaltende Politik der Regierung Kohl gegeißelt hatten, präsentieren sich Ankara freundlicher denn je. Zwingt der deutsche Machtwechsel zum Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition in der Türkeipolitik?

Tatsächlich schlüpft die neue Regierung nicht einfach in die Rolle der alten, sie setzt spürbar neue Akzente: Nicht immer haben deutsche Außenminister in der Türkei so klar Position für Menschenrechte bezogen wie Joschka Fischer. Und noch nie hat ein deutscher Politiker gewagt, einen Termin für die Beitrittskandidatur zur EU zu nennen: Noch 1999 soll die Türkei zum Kandidaten aufrücken - wenn der EU-Gipfel in Helsinki diesem Vorstoß folgt.

Neue Offenheit auf beiden Seiten

Dagegen spricht freilich die bisherige Haltung Europas. In der ersten Osterweiterungsrunde wurde die Türkei 1997 nicht einmal in die zweite Kandidatenreihe vorgelassen. Noch beim EU-Gipfel in diesem Juni traten die Deutschen erfolglos für die Türkei ein. Und sogar wenn die türkische Kandidatur eine Mehrheit fände: Allein am Veto Athens, das mit Ankara wegen des Ägäis-Streits und der türkischen Besetzung Nordzyperns im Konflikt liegt, kann die Kandidatur auch künftig scheitern.

Für ein Aufrücken der Türkei in den Kandidatenkreis spricht derzeit allein das deutsche Engagement: Dazu gehört die Antrittsrede Johannes Raus, in der er sich ausdrücklich auch als Präsident der Türken in Deutschland bezeichnet hat. Dazu zählt das Treffen von Kanzler Gerhard Schröder mit türkischen Industriellen zeitgleich mit Fischers Ankara-Visite ebenso wie dessen Versprechen, er werde als nächstes in Athen vermitteln.

Die Türkei hat diesen Einsatz keineswegs durch bessere Menschenrechtspolitik verdient - da haben die Unionskritiker an der deutschen Offenheit gegenüber Ankara recht: Premier Bülent Ecevit verbat sich kurz vor der Fischer-Visite Hinweise auf Demokratie-Defizite als "Einmischung". Und die nationalistische türkische Presse hielt Fischer sogar vor, die PKK genieße in Deutschland Rechtsschutz. In Wirklichkeit ist die Organisation hierzulande verboten, werden straffällige PKK-Aktivisten genauso bekämpft wie andere Kriminelle. Daß sie nicht abgeschoben werden können, liegt meist an ihrem Asylstatus - und der hat seine Ursachen in der Türkei: Sobald dort Regimegegner nicht mehr der Folter ausgesetzt und rechtsstaatliche Verfahren wirklich gesichert sind, droht PKK-Straftätern hier ebenso Abschiebung wie anderen kriminellen Ausländern. Immerhin versucht sich auch Ankara in neuer Offenheit und hat Strafrechtsreformen, die Entschädigung von Terroropfern und schärfere Strafen für Folterer angekündigt.

Zur Offenheit gegenüber der Türkei gehört freilich der Hinweis, daß auch ein Ende aller Menschenrechtsdefizite, Minderheitenrechte für Kurden und die Beilegung des Ägäis- und Zypern-Konflikts nicht zum raschen EU-Beitritt führen. Hinzu kommen nämlich wirtschaftliche und demografische Hürden: Die Türkei ist größer als jeder andere EU-Staat - gigantische Flächen, warmes Klima und einzigartiger Wasserreichtum ermöglichen eine Landwirtschaft, die einstweilen jeden EU-Agrarrahmen zu sprengen drohte. Außerdem ist jeder zweite Türke jünger als 25 Jahre - die Türkei wäre binnen einer Generation auch das bevölkerungsreichste EU-Land.

Kein "kranker Mann am Bosporus"

Auch deshalb wird bis zur vollen EU-Mitgliedschaft der Türkei noch viel Zeit verstreichen. Dabei muß man nicht so weit gehen wie CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, der den Beitritt erst in zwei bis drei Generationen für vertretbar hält. Aber bis mit der EU-Mitgliedschaft auch die volle Freizügigkeit türkischer Agrarprodukte und Arbeitskräfte in der EU einhergeht, werden gewiß noch Jahrzehnte verstreichen.

Schon jetzt sollten die Europäer sich aber veraltete Türkei-Bilder vom "kranken Mann am Bosporus", der nur an die EU-Agrartöpfe heranwill, aus dem Kopf schlagen: Die Türkei erwirtschaftet längst weniger als ein Fünftel ihres Sozialprodukts in der Landwirtschaft, ein Drittel in der Industrie - und mehr als die Hälfte im Dienstleistungssektor.

Die Türken wiederum sollten die zweite Chance ergreifen, die Fischer ihnen eröffnet hat, und sich mit raschen Reformen auf den Weg nach Europa machen. Der nächste Schritt muß jetzt von ihnen kommen.

Daniel Alexander Schacht , Hannover