taz, 24.7.1999

Nur Vorsicht führt nach Helsinki

Bundesaußenminister Fischer hat bei seinem zweitägigen Besuch in der Türkei Hoffnungen auf eine Anerkennung als EU-Beitrittskandidat geweckt - trotz der tiefen türkischen Skepsis gegenüber der EU

Aus Ankara Jürgen Gottschlich

Osman Baydemir ist aufgeregt. Mit angespannter Miene wehrt er das Ansinnen einer deutschen Fernsehreporterin ab, doch noch schnell zwei Fragen zu beantworten. "Nein, nein, jetzt nicht mehr." Später, ja, später ist es kein Problem, wenn der Besuch vorbei ist.

Für den kleinen Anwalt aus Diyarbakir, der größten Stadt im kurdisch bewohnten Südosten der Türkei, ist heute ein großer Tag. Osman Baydemir ist im Nebenberuf Vorsitzender des türkischen Menschenrechtsvereins in Diyarbakir und Vizevorsitzender des Gesamtvereins (IHD). In dieser Rolle steht er nun an der Tür des IHD-Hauptquartiers in Ankara und wartet angespannt auf den Gast aus Deutschland.

In den engen Räumen des IHD treten türkische Polizei, deutsche Sicherheitsleute, Kamerateams und Journalisten sich geradezu auf die Füße. Als Außenminister Fischer am Donnerstag morgen mit seiner Delegation eintrifft und von einem strahlenden Baydemir in Empfang genommen wird, verwandelt sich der Versammlungssaal des IHD kurzfristig zur Bühne einer improvisierten Pressekonferenz. "Was sagen Sie zu Cevat Soysal", dem PKK-Mann, den der türkische Geheimdienst just zur Ankunft Fischers als Trophäe der Öffentlichkeit präsentierte? Doch Fischer wehrt ab. "Jetzt geht es doch um die Menschenrechtssituation hier im Land, lassen Sie uns erst einmal hören, was unsere Freunde zu sagen haben."

Was Fischer dann zu hören bekommt, ist wenig erfreulich. Seit Amtsantritt der neuen Regierung Ende Mai hat sich nach Einschätzung der Menschenrechtler wenig geändert. Die meisten sind pessimistisch, was die kommenden Jahre betrifft. "Außer kosmetischen Korrekturen", so Nazmi Gür, hauptamtlicher Sekretär des Vereins, "wird nicht viel passieren." Das IHD versucht zur Zeit eine Kampagne gegen die Todesstrafe und für die Meinungsfreiheit landesweit in Gang zu bringen. Beides Themen, die auch auf Fischers Gesprächszettel obenan stehen.

Schon in seinem ersten öffentlichen Statement in der Türkei machte Fischer klar, was er erreichen möchte: Neuanfang in den deutsch-türkischen Beziehungen, Unterstützung der Türkei in dem Ziel, Mitglied der EU zu werden. "Die EU ist für uns kein christlicher Club, sondern eine Wertegemeinschaft." Ganz so leicht wie mit den Menschenrechtsvertretern hat Joschka Fischer es mit seinen übrigen Gesprächspartnern in Ankara nicht. Eine Ausnahme bildet da am ehesten noch sein direkter Ansprechpartner, der türkische Außenminister Ismael Cem. Cem und Fischer gehören zur selben Generation, und beide kommen aus der Linken. Beide kennen sich aus den Krisenrunden um Bosnien und das Kosovo und haben dort eine erste Vertrauensbasis aufgebaut. Fischer wurde am ersten Tag seines Türkeibesuchs am Mittwoch nachmittag auch erst einmal zu einem Privatprogamm von Cem in Istanbul empfangen, bevor am Donnerstag die offiziellen Gespräche in Ankara stattfanden. Dort sind offenbar auch die gröbsten Irritationen über die Festnahme Cevat Soysals, der in Deutschland als Asylbewerber anerkannt ist, und am letzten Sonntag aus Moldawien in die Türkei gebracht worden war, ausgeräumt worden.

Cem Özdemir, innenpolitischer Sprecher und als bekanntester Deutschtürke mit in Fischers Delegation, mutmaßte gegenüber der taz, daß Soysal von der Fraktion innerhalb der türkischen Politik, die an einer Annäherung an Europa kein Interesse hat, gezielt als Störmanöver eingesetzt wurde. Für die These spricht, daß Soysal bereits seit Sonntag in der Türkei ist, die "Erfolgsmeldung" aber erst zeitgleich mit dem Fischer-Besuch herausposaunt wurde. Als zudem noch das Gerücht gestreut wurde, Soysal sei aus Deutschland verschleppt worden, war in der Fischer-Delegation tatsächlich kurzfristig überlegt worden, noch in der Luft wieder umzukehren.

Davon läßt Fischer sich am Donnerstag allerdings nichts mehr anmerken. Man habe über Soysal gesprochen und mehr sei öffentlich dazu nicht zu sagen. Aufmerksam wurde in der türkischen Presse registriert, daß er sich auch ansonsten sehr vorsichtiger Formulierungen bedient. Fischer spricht von türkischen Staatsbürgern kurdischer Herkunft, er vermeidet es, den Fall Öcalan direkt beim Namen zu nennen, sondern verweist immer wieder auf die generelle Ächtung der Todesstrafe.

Wahrscheinlich ist dem deutschen Außenminister erst im Laufe des Tages wirklich klargeworden, wie tief die emotionalen Verletzungen im türkischen Establishment und in der türkischen Öffentlichkeit über das jahrzehntelange Gezerre mit der EU tatsächlich sind. Seine Äußerungen werden im Laufe des Tages immer vorsichtiger. Während Fischer am Morgen den Menschenrechtsvereinen den Rücken stärkt, ist am Mittag, nach seinem Gespräch mit Staatspräsident Demirel, mehr davon die Rede, daß natürlich auch die Türkei ein Recht habe, sich - im Rahmen des Rechtsstaats versteht sich - "gegen den Terrorismus zur Wehr zu setzen".

Am frühen Abend zeigte sich dann ein sichtlich erschöpfter Joschka Fischer gemeinsam mit seinem türkischen Kollegen Cem zur abschließenden Pressekonferenz. Nun war Fischer mit Cem ganz und gar ein Herz und eine Seele. Statt als moralischer Richter präsentierte sich Fischer als der Mann, der im Kosovo gezeigt hat, daß ihm das Schicksal eines muslimischen Volkes nicht gleichgültig ist. Beim Angebot seines Amtskollegen, eine gemeinsame Rüstungsindustrie zu schaffen, trat Fischer, die Meldungen über den türkischen Wunsch nach Leopard-II-Panzern im Hinterkopf, aber auf die Notbremse. Das müsse man später noch in aller Ruhe besprechen.

Trotz der tiefen türkischen Skepsis gegenüber der EU hat Fischer es durch seinen Auftritt wohl geschafft, daß zumindest ein Teil der Regierung wieder mit einiger Hoffnung zum nächsten EU-Gipfel in Helsinki schaut. Doch wenn es auch dort im Dezember nicht klappt, dann, so Cem, "weiß ich auch nicht mehr weiter". "Dann wird die Türkei ihre Beziehungen zur EU wohl auf ein Minimum reduzieren." Aber nicht nur Cem richtet seine Hoffnungen auf den Gang nach Helsinki.

Auch Osman Baydemir ist überzeugt, daß Menschenrechte und Demokratie in der Türkei am ehesten im europäischen Geleitzug Fortschritte machen werden. Deshalb war der Besuch Fischers auch für ihn "sehr sehr wichtig".

Fischer ist klargeworden, wie tief die emotionalen Verletzungen in Ankara über das Gezerre mit der EU sind