Frankfurter Rundschau 20.7.99

Schwer traumatisierte Gesellschaft

Gastbeitrag: IPPNW beklagt Folter in der Türkei: Übliche Methode

Bundesaußenminister Joschka Fischer reist am Mittwoch zu seinem ersten offiziellen Besuch in die Türkei. Dabei will er auch Menschenrechtler treffen. Angelika Claußen, Vorsitzende der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), erwartet vom Minister deutliche Signale der Unterstützung für die Menschenrechtler. Im folgenden ihre Analyse der türkischen Gesellschaft:

Die Schreckensnachrichten über schwere Menschenrechtsverletzungen in der Türkei sind so alltäglich, daß sie den Medien keine Nachricht mehr wert sind, wie mir ein türkischer Journalist erklärte. "Wenn Du nachweisen kannst, daß in Polizeihaft einmal nicht gefoltert wurde - das wäre in der Tat wirklich etwas Neues!" Folter gehört zu den in der Türkei üblichen Verhörmethoden. Obwohl seit 1838 de facto verboten und seit 1858 im Strafgesetzbuch so festgeschrieben, bestimmen die Paragraphen in keiner Weise die Normen des täglichen Lebens.

Die von Folter Betroffenen (laut Menschenrechtsstiftung der Türkei mindestens eine Million Bürger seit dem Militärputsch von 1980) weisen zum Teil schwere psychische Symptomatiken auf, die mit Kontrollverlust, Angst, Hilflosigkeit und Entfremdung einhergehen. Ein Teil entwickelt höhere Bereitschaft zum Widerstand, unter Umständen auch die Neigung, für die eigenen Ziele selbst Gewalt anzuwenden.

Ein häufiger Abwehrmechanismus bei nicht direkt von Folter Betroffenen ist das Verleugnen. Typische Argumente sind: "Es gibt keine Kurdenfrage, sondern nur ein Terrorismusproblem mit der PKK" oder "Einer Stiftung zur Behandlung von Folteropfern kann keine Genehmigung erteilt werden, da Folter in der Türkei verboten ist und also auch nicht existiert".

Ein zweiter wichtiger Mechanismus ist die Identifikation mit den Tätern, wie sie beispielhaft in einer Entscheidung des Militärgerichts in Erzincan vom 24. Januar 1984 enthalten ist: "Selbst wenn man davon ausgeht, daß gefoltert wurde, so muß festgestellt werden, daß Folter angewandt wurde, um wahre Antworten zu erhalten."

Dies führt zur einem Circulus vitiosus der Gewalt, der von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Die Dimension macht ein Blick in die Geschichte deutlich: In 600 Jahren des Osmanischen Reiches gab es keine 20 Jahre ohne Krieg, Aufstände nicht mitgerechnet. Die türkische Republik stand in ihrer 75jährigen Geschichte 34 Jahre unter Kriegsrecht; die kurdischen Provinzen in der Türkei befinden sich seit 1980 im Kriegszustand.

Wenn ich verfolgten und gefolterten Patienten aus der Türkei zuhöre, erscheint der türkische Staat mir als uniformierte, bewaffnete, mißtrauische Kreatur - immer auf der Suche nach Bürgern, die andere Gedanken haben als er, die in einer anderen Sprache als seiner eigenen sprechen. Er sieht diese Menschen als Feinde, die seine Identität und/oder seine Einheit bedrohen - und handelt dementsprechend. Meine Diagnose: Die Gesellschaft in der Türkei ist schwer traumatisiert. Das Ausmaß der Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, die der Staat duldet oder über interne Gruppen im Staat - wie paramilitärische Kräfte - ausüben läßt, hat die Gesellschaft in ihrer Funktionsweise schwer unterminiert.

Meine Therapieempfehlung: Die Gesellschaft in der Türkei braucht einen Prozeß der Versöhnung, der Vertrauensbildung und das Abbaus von Feindbildern. Voraussetzung dafür sind Demokratie, Rechtssicherheit und Frieden. Frieden heißt insbesondere, daß das Militär sich den Entscheidungen der Politik unterordnet. Eine der entscheidenden Forderungen des Unternehmensverbandes Tüsiad in seinen "Perspektiven für die Demokratisierung in der Türkei" ist daher, "daß der Nationale Sicherheitsrat aus der Position, ein Verfassungsorgan zu sein, herausgenommen werden muß".

Wie aktuell die Forderung ist, zeigt ein Milliyet-Interview mit dem pensionierten General Kemal Yavuz vom 6. Juli 1999, der für Abdullah Öcalan die Vollstreckung der Todesstrafe fordert. Wenn die Politiker des Landes in bezug auf Öcalan an Europa Zugeständnisse machten, würden sie damit den toten Soldaten in den Rücken fallen. Dazu hätten sie weder das Recht noch die Macht.

Es bleibt zu hoffen, daß Fischer sich in der Türkei energisch für Öcalans Leben einsetzt. Wenn es ihm wirklich um die Verteidigung der Menschenrechte geht, muß er dazu den Menschenrechtlern in der Türkei, allen voran dem inhaftierten Akin Birdal, klare Signale der Unterstützung geben. Auch ist es nötig, gegenüber dem Nato-Partner eine deutliche Sprache zu gebrauchen. Doch bleibt die Frage: Wer spricht mit den türkischen Generälen Klartext in puncto Demokratie?