Aachener-Zeitung, 19.7.99

Schweren Herzens Abschied gefeiert: Kurden fanden Zuflucht in Würselen

Würselen. Hüseyin Havayitli ist 21 Jahre alt. Er würde gerne ein normales Leben führen, eine Ausbildung machen, einen Beruf ergreifen, schlicht in der Lage sein, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch Hüseyin Havayitli ist Kurde - und als solcher in seinem Herkunftsland Türkei «ein Mensch zweiter Klasse», wie er selbst formuliert. Vor mittlerweile sechs Jahren hat es ihn nach Deutschland verschlagen, geflohen vor Verfolgung, Unterdrückung und Folter.

Ein gern gesehener Gast war er auch bei uns nicht, lediglich «geduldet». Von der Abschiebung, die aus Havayitlis Sicht «wahrscheinlich den Tod zur Folge gehabt hätte», bedroht, hat er im Januar 1998 Zuflucht im Wanderkirchenasyl gesucht.

Rund 460 Kurden, davon 35 im Raum Aachen, genießen in Nordrhein-Westfalen zur Zeit den Schutz der Kirche. Eine rechtliche Grundlage für das Kirchenasyl gibt es nicht, «doch faktisch sind die Flüchtlinge in Sicherheit, da sich Politik und Polizei nicht bis in die Gotteshäuser trauen», erläutert Matthias Hövelmann vom Flüchtlingsplenum Aachen.

Die vergangenen vier Wochen hat Hüseyin Havayitli mit neun seiner Landsleute im Jugendheim der Würselener Pfarre St. Sebastian verbracht. Nun geht es weiter nach St. Apollonia in Aachen-Eilendorf. Wanderasyl eben. Nur wenige Wochen verbleiben die Flüchtlingsgruppen an einem Ort, dann zieht die Karawane weiter. Mit Hab und Gut, Haut und Haar sozusagen.

«Die Kapazitäten der Pfarreien sind eben räumlich und vor allem zeitlich begrenzt», erklärt Horst Schneider von der Pfarre St. Sebastian fast entschuldigend. Am Freitag gab es zum Abschied aus Würselen ein großes Fest. Viele Deutsche aus der Gemeinde feierten mit den ins Herz geschlossenen Kurden. Es war fröhlich, es wurde gegrillt, gesungen, erzählt und gelacht. Eine Momentaufnahme, eine trügerische wohlgemerkt, im von Ausweglosigkeit geprägten Alltag der kurdischen Gruppe

. «Irgendwie versuchen wir halt, uns die Zeit zu vertreiben», erzählt Fatma Sutaya, die seit 1992 in Deutschland und seit einigen Monaten im Kirchenasyl lebt. Auf die Straße trauen sich die Kurden nur selten. Zu groß ist die Angst. So verbrachten die Flüchtlinge die vergangenen vier Wochen zumeist im Foyer des Jugendheims. Hinter dem großen Gemeinschaftstisch lief beinahe unentwegt der Fernseher. Immer auf der Mattscheibe: Der kurdische Kanal C-TV, der aus Brüssel sendet. Unscharf zwar, aber zumindest ein bißchen Heimat fernab derselben.

Neben dem Fernsehapparat hing ein Bild des PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Natürlich habe man dessen Verurteilung bestürzt zur Kenntnis genommen, berichten die Kurden, doch irgendwo war die Entscheidung erwartet worden. Nun liegt das Leben Öcalans also in den Händen des türkischen Parlaments, das die Entscheidung über den Vollzug der Todesstrafe fällen muß. Dieser Umstand löst bei den Kurden allenthalben Verzweiflung aus. «Zu oft», klagen sie, «sind wir vom türkischen Parlament schon betrogen worden».

Das Vertrauen in die westlichen Demokratien ist keinen Tick größer. «Der Waffenexport ist scheinbar wichtiger als die Wahrung der Menschenrechte», ereifern sich die Flüchtlinge. «Für die Kosovaren ist der Westen eingetreten, für uns Kurden, die das gleiche Schicksal schon seit 15 Jahren erleiden müssen, wird nichts getan». Einmal in Fahrt, geht den Flüchtlingen eine Geschichte nach der anderen über die Lippen. Zumeist sind es Geschichten, die von grausamen menschlichen Schicksalen handeln. Mit Bildern, Zeitungsausschnitten und anderen Dokumenten versuchen die Kurden, die Authentizität ihrer Erzählungen zu belegen.

Vielleicht schießen die Flüchtlinge das ein oder andere Mal über das Ziel hinaus, wenn sie sich in dann doch allzu abenteuerliche Theorien versteigern, über «türkische Geschäftsleute» schwadronieren, «die ihre eigenen Läden anzünden, um der PKK die Schuld in die Schuhe schieben zu können». Doch wer will ihnen dies angesichts ihrer Situation verdenken?

«Natürlich», schränkt Hüseyin Calhan ein, «war die PKK in der Vergangenheit keine friedliche Institution». Doch die Alternative zum Kampf habe im Verleugnen der eigen Herkunft, Tradition und Sprache gelegen. Inzwischen seien die Kurden aber «die demokratische und friedliche Bevölkerungsgruppe in unserer Heimat». Calhan: «Unser tadelloses Auftreten hier in Würselen ist doch der beste Beweis für unsere Absichten.»

Nun sind die zehn kurdischen Flüchtlinge aus St. Sebastian also auf dem Weg nach Eilendorf. Zum zweiten Mal übrigens. Auch in Würselen waren sie vor ihrem jetzigen Aufenthalt bereits einmal untergekommen. Eine Symbolik für den Teufelskreis, in dem sich die Flüchtlinge befinden . . .

Heinz-Roger Dohms