jungle world, 14.7.99

Der Schuß auf der Kanzel

Während sich die Türkei in einer tiefen Wirtschaftskrise befindet, schießt sich der türkische Wirtschaftsminister in den Kopf. Er soll ein IWF-Dokument an einen Börsenmakler weitergegeben haben

Die erste Kugel, die sich Hikmet Ulugbay vergangenen Mittwoch gegen 0.45 Uhr in den Kopf schoß, tötete ihn nicht, verletzte ihn aber an Kiefer, Mund und Zunge. Der türkische Wirtschaftsminister feuerte noch eine zweite ab, die ihr Ziel jedoch verfehlte. Dann stürmten Frau und Sohn des türkischen Wirtschaftsministers in das Zimmer.

Nach einer dreistündigen Operation befand sich Ulugbay außer Lebensgefahr. Ministerpräsident Bülent Ecevit besuchte den Schwerverletzten noch am selben Tag im Krankenhaus. Anschließend erklärte er, niemand wisse, warum der Ökonom mit dem Saubermann-Image den Selbstmordversuch unternommen hat.

Möglicher Hintergrund ist ein Skandal im Zusammenhang der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in den Wochen zuvor, bei denen Ulugbay die türkische Delegation angeführt hatte. Am vorvergangenen Freitag hatten der Wirtschaftsminister und der Vertreter des IWF, Carlo Cottarelli, eine gemeinsame Pressekonferenz abgehalten. Noch während sie andauerte, stürzte der Istanbuler Aktienindex innerhalb von Minuten um elf Prozent ab. Von Mittwoch bis Freitag waren die Handelsumsätze an der Aktienbörse doppelt so hoch wie normal gewesen. Bei den Verhandlungen ging es um ein Stabilitätsprogramm für die türkische Wirtschaft, das der Fonds mit einem Kredit unterstützen soll.

Gerüchten zufolge sind angebliche Insidergeschäfte eines Verwandten von Mesut Yilmaz, dem Chef der Mutterlandspartei, der Grund für den Kurssturz. Ulugbay soll ein geheimes Dokument des IWF an Yilmaz weitergeleitet haben, das dieser dann seinem Vetter Mehmet Kutman zugespielt habe, dem die Börsenmaklerfirma Global gehört. Global war bereits in der Vergangenheit wegen zweifelhafter Geschäfte ins Gerede gekommen. In dem Dokument empfiehlt der Fonds der Türkei angeblich, die Landeswährung Lira abzuwerten und ein Currency Board einzurichten, das heißt, den Kurs an eine andere Währung zu binden.

Yilmaz leugnete zunächst, das vertrauliche Papier erhalten zu haben. Am nächsten Tag behauptete er jedoch vor seiner Fraktion, es von Ulugbay direkt empfangen zu haben, stritt jedoch ab, das Dokument an einen "Freund an der Börse" weitergeleitet zu haben. Nachdem er diese Aussage am Fernseher verfolgt hatte, griff Ulugbay zur Waffe. Dennoch weist Yilmaz die Vermutung, sein Wirtschaftsminister habe sich wegen seiner Verstrickung in den Insider-Skandal das Leben nehmen wollen, als "häßliche und falsche" Unterstellung zurück.

Ulugbay verhandelte mit dem IWF um Kredite, weil die Türkei sich derzeit in einer tiefen Wirtschaftskrise befindet. In den ersten drei Monaten dieses Jahres war das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozent geschrumpft, die Investitionen sind gar um rund ein Fünftel gesunken. Für das gesamte Jahr 1999 rechnet der IWF mit einer Wachstumsrate von einem halben Prozent. In den vier Jahren zuvor konnte die Türkei jeweils ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich sieben Prozent erreichen. Schätzungen zufolge verringert sich das jährliche Durchschnittseinkommen in diesem Jahr von 3 500 auf 3 200 US-Dollar (etwa 6 100 Mark). Das mit dem IWF ausgehandelte Stabilitätsprogramm dient vor allem der Inflationsbekämpfung. Im Juni lag die Teuerungsrate bei 64 Prozent, bis in zwei Jahren soll sie auf zehn Prozent gedrückt werden.

Auch das Staatsdefizit bereitet den Türken Kopfzerbrechen. Es beträgt derzeit zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts und ist damit das höchste in der Geschichte des Landes. Fast die Hälfte des Staatshaushalts muß für Zinsen ausgegeben werden. Kein Wunder, denn die Realzinsen liegen bei 40 Prozent. Die Türkei erhofft sich vom IWF Kredite in Höhe von drei bis zehn Milliarden Dollar. Das soll dem Land ermöglichen, die wesentlich höher verzinsten Staatsanleihen zurückzukaufen, andererseits soll das Abkommen das Vertrauen der Gläubiger stärken.

Dominique Tissier, Generaldirektor von Crédit Lyonnais, schätzt, daß das den Zinssatz um bis zu 18 Prozentpunkte senkt. Lohnsenkungen bei den Beamten, weniger Subventionen für die Landwirtschaft und die Privatisierung von Staatsbetrieben sollen ebenfalls zur Haushaltskonsolidierung beitragen.

Friedrich Geiger