Neue Züricher Zeitung 17.7.99

Illusionäres Weltbild

Humanitärer Idealismus als aussenpolitische Sackgasse

Von Charles Krauthammer*

Nicht nur Präsident Clinton, auch Tony Blair, Joschka Fischer und andere Repräsentanten linker europäischer Regierungen haben das Eingreifen der Nato in Kosovo mit humanitären Argumenten gerechtfertigt. Gegen diese «idealistische Aussenpolitik» haben sich Kritiker zu Wort gemeldet, die auf die Widersprüche dieses Konzeptes hingewiesen haben. Zu diesen gehört der amerikanische Publizist Charles Krauthammer. In seinem Beitrag kommt nicht nur seine Zugehörigkeit zur «realpolitischen» Denkschule der Aussenpolitik zum Ausdruck, sondern auch die Neigung der Supermacht USA, ohne die Einschränkungen internationaler Abkommen und Verpflichtungen eine Aussenpolitik zu verfolgen, die ausschliesslich ihren Interessen dient.

Die Welt nach dem kalten Krieg ist so wenig ein totales Durcheinander wie der kalte Krieg davor. Klarheit ist möglich. Und sie beginnt mit der Einsicht, dass die heutige Linke durchaus eine Aussenpolitik hat. Sie beruht auf drei Säulen: dem Internationalismus, also auf dem Glauben an den moralischen, legalen und strategischen Vorrang internationaler Institutionen vor nationalen Interessen; dem Legalismus, also auf dem Glauben, dass Gesetze, Abkommen und internationale Verträge die internationale Arena domestizieren können; dem Humanitätsdenken, also auf dem Glauben, dass die primäre Weltrolle der USA - um Madeleine Albright zu zitieren - darin besteht, «die abscheulichen Ungerechtigkeiten und Verhältnisse, unter denen unsere Welt noch immer leidet, zu begrenzen». Zusammengenommen bilden diese drei Prinzipien eine Vision der Welt, die auf gefährliche Weise den Realitäten des internationalen Systems widerspricht.

Zunächst zum Internationalismus. Man bekommt es andauernd zu hören: Die Vereinigten Staaten hätten in Bosnien oder im Irak oder in Somalia dieses oder jenes in Übereinstimmung mit oder unter Befolgung von oder unter Ermächtigung durch diese oder jene Resolution des Uno- Sicherheitsrates, also in Übereinstimmung mit der «internationalen Rechtsordnung», getan. So zitierte Präsident Clinton beispielsweise in einer Rede vom Februar 1998, in welcher er das Fundament für einen möglichen Angriff auf den Irak legte, die Notwendigkeit, die Erfüllung irakischer Verpflichtungen durchzusetzen, «welche die Vereinten Nationen - nicht die Vereinigten Staaten! - nach dem Golfkrieg verlangt hatten».

Wirkungslose Uno-Bürokratie

Man beachte die Hierarchie. Da hält der Präsident der mächtigsten Nation auf Erden mitten im Satz inne, um den Vorrang von Verpflichtungen gegenüber der Uno vor denen gegenüber den USA herauszustreichen. Dies kann nicht überraschen, hat dieser Präsident doch in seiner ersten Inaugurationsrede amerikanisches Vorgehen gelobt, wenn «dem Willen und Gewissen der internationalen Gemeinschaft zuwidergehandelt wird». Die internationale Gemeinschaft ist aber eine Fiktion. Länder unterscheiden sich in bezug auf Geographie, Geschichte und Machtstrukturen und haben daher radikal unterschiedliche Interessen. Zwar kann es immer wieder zu ad hoc gebildeten Interessenbündnissen kommen. Staaten können sich gelegentlich in kritischen Situationen (Zweiter Weltkrieg, Golfkrieg) zusammenschliessen. Doch eine naturgegebene, dauernde internationale Gemeinschaft gibt es nicht. Die internationale Arena ist vielmehr reine Natur; sie kennt weder einen übergeordneten Führer noch allgemein anerkannte Normen. Die Anarchie wird, heute wie schon immer, nicht durch eine substanzlose Bürokratie am East River in Schach gehalten, sondern durch den Willen und die Stärke der Grossmächte oder, heute, insbesondere der einen grossen Supermacht.

Warum sollen die USA die Äusserungen und Beschlüsse eines internationalen Direktoriums namens Uno-Sicherheitsrat ernst nehmen, moralisch ernst nehmen? Nach welcher Logik ist eine Aktion, die mit dem Segen der Schlächter vom Tiananmen-Platz, der Ex-Apparatschiks von Moskau oder der Zyniker von Paris durchgeführt wird, aus Prinzip mehr wert als Massnahmen, die das Volk der Vereinigten Staaten trifft, vertreten durch den Kongress und geführt von seinem Präsidenten? Das Problem der heutigen Linken ist, dass sie glaubt, multilaterales Vorgehen sei moralisch höherstehend und eher zu rechtfertigen, als wenn die Vereinigten Staaten einseitig die eigenen nationalen Interessen geltend machten.

Legalismus ist der Glaube, dass Sicherheit sich über Verträge erreichen lässt und dass daher die Hauptarbeit der Aussenpolitik im Unterzeichnen von Pergament besteht. Man kann sich kaum eine Regierung in der amerikanischen Geschichte mit einer grösseren Manie für das Abfassen, Unterschreiben, Ratifizieren und Produzieren von internationalen Abkommen denken als die Clinton- Administration. Von Anfang an war es das Hauptziel ihrer Aussenpolitik, sich Unterschriften für eine schwindelerregende Sammlung von Verträgen - zum Beispiel über chemische Waffen, biologische Waffen, Atomtests, Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen und Raketenabwehrsystemen - zu sichern. (Ohne Druck aus dem Pentagon hätte sie sogar das katastrophale Verbot von Landminen mitunterzeichnet.)

Macht als entscheidender Faktor

Diese Politik widerspiegelt eine einheitliche Vision dessen, was den Fortschritt in den internationalen Beziehungen ausmacht. Die Grundidee ist, Machtpolitik durch ein System von Vereinbarungen zu überwinden, das neue Normen, Verpflichtungen und Verhaltensbeschränkungen für sonst gesetzlose Völker schafft. Das ist jedoch hoffnungslos utopisch. Der grundlegende Unterschied zwischen dem internationalen System und einer staatlichen Gemeinschaft besteht darin, dass es im letzteren Fall ein Zwangsmonopol, eine Vollzugsbehörde, einen Souverän gibt. Keine dieser Bedingungen ist in der internationalen Arena erfüllt. Grossbritannien, Nordkorea und Burundi haben keine gemeinsamen Normen, wie Staaten sich verhalten sollen. Und selbst wenn sie es hätten, so gibt es keine internationale Autorität, die deren Einhaltung durchzusetzen vermag, so wie es Polizei und Gerichte im eigenen Staat tun. Und wo es in einem Gesellschaftssystem, ob von Einzelmenschen oder Nationen, keine Vollzugsbehörde gibt, kann es auch kein Recht im eigentlichen Sinne geben.

Man kann natürlich triviale Gesetze abfassen - ein Fischereiabkommen zwischen Freunden wie Amerika und Kanada etwa. Oder gesetzesähnliche Abkommen - einen Abrüstungsvertrag zwischen Feinden wie etwa den USA und der alten Sowjetunion. Nur verdankt letzteres seine Wirkung nicht seinem Gesetzescharakter, sondern der Machtkonstellation der beiden Partner. Wird der eine stärker oder dreister als der Rivale, sind - wie das Deutsche Reich der dreissiger Jahre gezeigt hat - solche Verträge bedeutungslos.

Dennoch sind für die Clinton-Administration Verträge die Seele der Aussenpolitik. Und was haben sie eingebracht? Urkunden, die entweder nutzlos oder schlimmer als nutzlos sind. Eine Konvention über chemische Waffen (CWC), die, wie selbst ihre Befürworter zugeben, nicht verifizierbar ist. Verhandlungen über ein Kontrollregime für biologische Waffen, das amerikanischen Pharmaunternehmen aufdringliche Inspektionen beschert, während die leicht zu versteckenden kleinen Anlagen, in denen Libyen, Iran, Syrien und zahlreiche andere «Schurkenstaaten» auch jetzt noch Anthrax und Botulismus zusammenbrauen, garantiert nicht entdeckt werden. Einen umfassenden Atomtestsperrvertrag, der entweder die Zuverlässigkeit des amerikanischen Abschreckungspotentials bedroht - in welchem Falle er eine Entwaffnung durch die Hintertür bedeutet und damit die nationale Sicherheit gefährdet - oder dann dies gerade nicht tut, in welchem Fall er eine glatte Nullität darstellt.

Wenn man darauf hinweist, dass diese Abkommen Bösewichter nicht davon abhalten werden, schlimme Waffen anzuschaffen, haben die Befürworter stets eine Antwort bereit: Diese Dokumente seien ein wertvolles Werkzeug, um der internationalen Gemeinschaft moralisch zuzureden, dass sie jene Staaten, welche die Norm verletzen, isoliere. Das läuft darauf hinaus, dass eine Fiktion (die «internationale Gemeinschaft») Zuflucht zu einer Torheit nimmt («moralisches Zureden»), um ein Phantasiegebilde (internationale «Normen») durchzusetzen. Man denke nur an eine moralisch noch viel zwingendere «Norm»: das Verbot des effektiven Einsatzes chemischer Waffen. (Die CWC verbietet nur den Besitz.) Das diesbezügliche Genfer Protokoll geht auf das Jahr 1925 zurück. Saddam hat 1988 trotz dieser ehrwürdigen Norm Giftgas auf die rebellischen Kurden abgeworfen und 5000 Unschuldige getötet. Wie hat die «internationale Gemeinschaft» auf diese schockierende Verletzung des Genfer Protokolls reagiert? Sie fand sogar «moralisches Zureden» noch zu anstrengend. Sie tat gar nichts.

Zuerst kommen die Interessen der USA

Und jetzt die letzte Säule der linken Aussenpolitik: Humanitarismus. Was das «neue Kernproblem in der Politik nach dem kalten Krieg sei, das eine neue (amerikanische) Strategie angehen muss», hatte Leslie Gelb, Präsident des Council on Foreign Relations, Ende 1994 gefragt. «Pläne für multilaterales Vorgehen zu entwickeln, um Bürgerkriege einzudämmen, ohne in ihnen zu ertrinken.» Ist das Eindämmen von Bürgerkriegen wirklich die wichtigste strategische Herausforderung für die USA? Bürgerkriege wüten im Sudan, in Sierra Leone und in Kongo. Tausende werden mit äusserster Brutalität umgebracht. Wir sind als Einzelmenschen betroffen von diesen furchtbaren Tragödien. Aber berühren sie wirklich die strategischen Interessen der Vereinigten Staaten? Natürlich nicht. Und doch sagte Madeleine Albright auf dem Höhepunkt des amerikanischen Engagements in Somalia: «Die Entscheidung, die wir treffen müssen, ist, ob wir unsere Zelte abbrechen und Somalia in den Abgrund zurückfallen lassen oder den Kurs beibehalten und dem Land und seinen Menschen auf dem Weg von einem gescheiterten Staat zu einer entstehenden Demokratie helfen. Um Somalias und unsertwillen müssen wir durchhalten.»

Um Somalias willen sicher. Aber um unsertwillen? Das war gestern. Heute hat die Clinton- Administration ein «lebenswichtiges Interesse» in Kosovo oder, genauer, in der Autonomie für die Kosovo-Albaner ausgemacht. Nicht Unabhängigkeit, bewahre. Nicht direkte Herrschaft von Belgrad aus. Sondern Autonomie für eine begrenzte Zeit, unter Nato-Besetzung, angeführt von amerikanischen Soldaten. Ein lebenswichtiges amerikanisches Interesse? Das alles ist Ausdruck einer völligen Fehleinschätzung. Friedenssicherung, die Eindämmung von Bürgerkriegen oder das Vermitteln in lokalen Konflikten sind keine Aufgaben für die einzige Supermacht der Welt. Das ist ein Job für Kanada. Für eine Mittelmacht ohne wirkliche Feinde kann Humanitarismus eine strategische Aufgabe sein, für eine Supermacht nicht.

Geringschätzung des Nationalstaates

Der Schlüssel, um die verblüffende Verwandlung von Tauben des kalten Kriegs in Falken in Haiti und Bosnien und Kosovo zu verstehen, ist die grundsätzliche linke Antipathie gegen jede Vorstellung von nationalem Interesse. Tatsächlich ist in der neuen Orthodoxie nur eine desinteressierte Intervention - mit einem Wort, Humanitarismus - unverdorben genug, um den Einsatz von Gewalt zu rechtfertigen. Gewalt zum Schutz der Interessensicherung jedoch ist verpönt.

Internationalismus, Legalismus, Humanitätsdenken. Diese Begriffe bezeichnen mehr als nur schwammige Reflexe. Sie verschränken sich im Dienste einer alles umspannenden Idee: das internationale System nach dem Bild einer zivilen Gesellschaft neu zu schaffen. Wieso ist das eine Chimäre? Weil die zivile Gesellschaft zusammengehalten wird durch übergeordnete zentrale Autorität, während das Abgleiten der internationalen Arena in die totale Anarchie nur durch die überwältigende Macht einer Supermacht wie der Vereinigten Staaten verhindert wird, die internationale Stabilität als nationales Interesse definiert.

Die Idee, Machtpolitik, enge nationale Interessen und im Idealfall den Nationalstaat selbst zu überwinden, gehörte immer schon zu den Herzensanliegen der internationalistischen Linken. Der Nationalstaat wird als eine Art archaisches Überbleibsel aus einer primitiven Vergangenheit gesehen, als das Eingeständnis, dass die internationale Arena nicht so domestiziert ist, wie sie es sein sollte, dass sie ungezähmt bleibt. Amerikanische Hegemonie und amerikanische Macht sind daher ein Affront gegen die Vision einer neuen, demokratischen internationalen Gemeinschaft. Das Projekt einer linken Aussenpolitik besteht im Knüpfen eines komplizierten Netzes gegenseitiger Abhängigkeiten; es gilt, Gulliver mit einer Million kleiner Fäden zu fesseln.

* Charles Krauthammer ist Psychiater und gehört heute zu den führenden neokonservativen Publizisten der USA.