Berliner Morgenpost, 17.7.99

Ein Zeugnis blieb liegen
Kurde soll nach dem Schulabschluß in die Türkei abgeschoben werden

Von Tanja Laninger

Schöneberg. Sein Hauptschulzeugnis konnte er nicht mehr in Schöneberg abholen. Das Zimmer in der betreuten WG in Köpenick ist verlassen, die Zahnpastatube liegt offen und ausgetrocknet auf einem Schränkchen, der Kassettenrekorder schweigt. Seit dem 22. Juni sitzt der 18jährige Kurde Saban Koc in «Abschiebegewahrsam» in Grünau. «Sicherungshaft zur Vorbereitung der Rückführung» in die Türkei, heißt das im Amtsdeutsch. Sein Asylantrag wurde bereits vor drei Jahren abgelehnt.

Saban hat vor seiner Abschiebung solche Angst, daß er seit dem 5. Juli nichts mehr ißt. «Warum dürfen wir zu Hause unsere kurdische Sprache nicht sprechen, unsere Kultur nicht leben?»

Saban ist seit 1997 in Berlin. Als 15jähriger machte er die deutsche Hauptstadt zum Ziel seiner Flucht vor «Verfolgung und Folter durch türkische Soldaten». Sein Vater, so erzählt er, war als PKK-Sympathisant beschuldigt und von türkischen Soldaten gefoltert worden. Auch ihn hätten sie mitgenommen und seine nackten Füße geknüppelt. Seine Eltern, seine sechs Geschwister - er weiß nicht, wie es ihnen geht. Das letzte Telefonat mit dem Vater sei vor etwa einem Jahr gewesen.

Saban spricht gut deutsch, redet aber wenig und bricht immer wieder ab. «Wir haben zuerst gedacht, er sei einfach phlegmatisch», berichtet Beate Siebe. Sie betreut die WG, in der Saban lebte. Doch dann wurde klar: Alpträume bringen ihn um den Schlaf, Angst raubt ihm Lebenslust. Ein Psychiater bescheinigt ihm «posttraumatische Belastungsstörungen und Suizidgefahr».

Daß er sich eher etwas antut, als zurückzugehen, befürchtet Frau Siebe. Sie besucht ihn mehrmals in der Woche, ebenso Freunde aus der Schule, kurdische Kameraden und Sabans Lehrer. Saban hat sich integriert, will in Berlin leben: «Wenn ich zurückgehe, sterbe ich», fürchtet er.

Seine Angst vor Folter scheint berechtigt. Der niedersächsische Flüchtlingsrat hat gemeinsam mit «Pro Asyl» eine Dokumentation vorgelegt. Sie präsentiert zahlreiche vor Ort recherchierte Fälle von Mißhandlungen und Folterungen von Flüchtlingen, die in die Türkei abgeschoben wurden. Außerdem habe seit der Verhaftung von Abdullah Öcalan der Terror gegen Oppositionelle und Kurden zugenommen.

Einen generellen Abschiebestopp für Kurden gibt es nicht. Aber: «Jeder Fall wird individuell geprüft», betonen die Berliner Senatsverwaltung für Inneres und das Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. In Sabans Fall hat das Amt keinen Asylgrund erkannt, wie bei den meisten alleinstehenden asylsuchenden Minderjährigen. Nur vier bis sechs von hundert Anträgen würden anerkannt, heißt es in der Berliner Senatsjugendverwaltung. Saban kann jetzt jeden Tag abgeschoben werden. Sein Anwalt versucht trotzdem, per Asylfolgeantrag den Fall neu aufzurollen.