Nürnberger Nachrichten, 17.7.99

Kommentar
Offen für Kritik?

Joschka Fischer will die Türkei an Europa heranführen

VON HELMUT PICKEL Natürlich gehört die Türkei zu Europa. Gerade die trotzigen, auch mit einer gehörigen Prise Selbstmitleid gewürzten Reaktionen auf den Beschluß der EU vor anderthalb Jahren, Ankara nicht zum Beitrittskandidaten zu machen, zeigten damals, wie wichtig den Regierenden im Lande - und nicht nur ihnen - eine solche Perspektive gewesen wäre. Der Wunsch, dazuzugehören, ist auch heute noch akut, obwohl die Führung inzwischen gewechselt hat und manchmal unfreundliche Töne in Richtung Brüssel aussendet.

Unter den Regierungschefs Helmut Kohl und Mesut Yilmaz schienen Hopfen und Malz verloren zu sein: Kohls kolportierte Randbemerkung, daß die Türkei im europäischen "Christenclub" wenig zu suchen habe, rief auf der anderen Seite immer wütendere Tiraden hervor, die sich nach der offiziellen Zurückweisung beim Luxemburger EU-Gipfel ins Furioso steigerten. Yilmaz machte den CDU-Kanzler persönlich dafür verantwortlich, daß Europa die Türkei anscheinend für ewige Zeiten ins Abseits stellte.

Das klang schon wieder anders, als der Yilmaz-Nachfolger Bülent Ecevit bei den Wahlen im April klar bestätigt wurde. Er selbst darf zwar eher als "Euroskeptiker" gelten, aber zum Beispiel das Außenministerium in Ankara führte damals beredte Klage darüber, daß Joschka Fischer der herzlichen türkischen Einladung noch immer nicht gefolgt sei. Man litt unter Europas kalter Schulter - und setzte auf einen Sinneswandel unter der rot-grünen Bonner Regierung.

Begehrter Status

Im Lauf der nächsten Woche kommt Fischer nun endlich, und es gehört wenig Spürsinn zu der Einschätzung, daß er zu denen zählt, die Ankara wieder näher an die EU heranführen möchten. Sein Staatsminister Günter Verheugen, der kürzlich erklärte, er rechne noch in diesem Jahr mit dem Kandidaten-Status für die Türkei, wandert zwar als Kommissar nach Brüssel ab und wird sich in dieser Funktion nicht mehr so dezidiert politisch äußern. Aber die Bonner Stimmung hat er doch noch zutreffend wiedergegeben.

Außenminister Fischer wird, wenn er seinen Gesprächspartnern diese Stimmung übermittelt, allerdings auch wieder die Bedingungen nennen müssen, unter denen die türkische Eintrittskarte zu lösen ist. Die An- oder Eingliederung kann nicht gelingen ohne ein paar mutige Schritte hin zur Demokratie (west-)europäischen Standards - und da genügt es nicht, per Verfassungsänderung den Militärrichter aus den Staatssicherheitsgerichten zu entfernen, wie das während des Prozesses gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan geschehen ist.

Folter und Haft

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat jüngst zum wiederholten Mal den Finger auf Wunden gelegt, die die Türkei auszukurieren offenbar noch immer nicht bereit ist. Wieder ging es einerseits um Folter an Kurden: Straßburg beschied, daß Ankara seine Gesetze so ändern muß, "daß Folter in Zukunft ausgeschlossen ist". Andererseits rügten die Richter gravierende Eingriffe in die Meinungsfreiheit der Presse: Wer etwa einen pro-kurdischen Kommentar verfaßt, kann wegen "staatsfeindlicher Propaganda" jederzeit hinter Gitter wandern.

Wieso die Türkei es überhaupt nötig hat, Menschen aus politischen Gründen zu inhaftieren, wird sie Fischer erklären müssen. Einige davon läßt sie nach einer Schamfrist wieder frei, anderen erweist sie diese Gnade nicht. Mit vielen abgeschobenen Kurden - auch aus Deutschland - springt sie übel um. Und gegen die Kurden zu Hause führt sie Krieg, anstatt mit ihnen zu sprechen.

Von Freunden, so sagen Kenner, höre sich Ankara durchaus auch einmal Kritik an. Fischer sollte also ausloten, ob die Aussicht auf einen EU-Kandidatenstatus dazu beitragen kann, die Reformbereiten in der Türkei zu stärken.