Frankenpost, 16.7.

Ein Buch, das in der Türkei verboten ist

Von Heinrich Giegold Ist nicht eben, als die NATO Belgrad, Serbien und das Kosovo bombardierte, laut protestiert worden: Das sei völkerrechtswidrig, weil ohne Auftrag der UNO? Ja, so war es. Aber, so hören wir die Stimmen im Westen, nach über einem Jahr westlichen Antriebs - der amerikanische Unterhändler Holbrooke allein war 41mal bei Milosevi'c - sind ganz neue Kriterien aufgetreten, Prüfsteine sagt unsere deutsche Sprache. Die internationale Staatengemeinschaft, das NATO-Bündnis ist eine solche, hat durch das diktatorische Regime Serbiens erfahren müssen, daß Aggressionen gegen Menschen oder ein Volk, wo immer sie vorkommen, nicht mehr tatenlos hingenommen werden können.

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Wieder einmal ist in der Türkei, obwohl Mitglied der NATO, alles anders. Ein Gericht in Istanbul hat jüngst eine aufsehenerregende Sammlung von Erlebnisberichten türkischer Soldaten verboten, ein Buch, in dem 42 Soldaten über ihren Einsatz und ihre Alpträume, auch über die Zukunftsangst nach ihrer Heimkehr aus dem südöstlichen Anatolien Zeugnis ablegen, die Heimat des kurdischen Volkes, das einen 15 Jahre andauernden, unerklärten Krieg erleiden muß. Nur weil es frei sein, sich selbst regieren, nach seiner Kultur leben will. Das Buch ist erst im April erschienen und hat, meldet die Neue Zürcher Zeitung, schon die vierte Auflage erreicht. Es wurde von der türkischen Journalistin Nadine Mater geschrieben und trägt den Titel Mehmedin kitabi, auf deutsch: Buch des Soldaten. Die Soldaten erzählen von korrupten Offizieren, die diesen Krieg wollen, weil sie am Heroinschmuggel beteiligt sind. Bewohnte Dörfer seien niedergewalzt und in Brand gesteckt worden. ,,Massenweise wurden kurdische Frauen vergewaltigt, massenweise angebliche kurdische Kämpfer hingerichtet.'' Beschrieben werden auch rechtsradikal gesinnte türkische Soldaten, die abgeschnittene Ohren getöteter Rebellen als Anhänger am Schlüsselbund tragen. Die türkische Journalistin ist mit sechs Jahren Gefängnis bedroht, maximal, falls sie schuldig gesprochen werden sollte. Sie vertritt die internationale Organisation Reporter ohne Grenzen in der Türkei. Sie hat ein Tabu gebrochen, indem sie das Gebot des Schweigens über die Kurdentragödie brach. Denn der Prozeß gegen den Kurdenführer Abdullah Öcalan läßt nur die regierungsamtliche, einseitige Sicht des Dramas zu.

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Schweigen? Vor 85 Jahren, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, war schon einmal Schweigen verordnet worden, als in der Türkei, dem damaligen Osmanischen Reich, 1,5 Millionen christliche Armenier aus ihrer Heimat vertrieben und eine Million davon ermordet wurden. Damals war die Türkei mit dem kaiserlichen Deutschland verbündet, so wie sie heute Bündnispartner der NATO ist. 1914/15 war der Charakter einer Endlösung für das armenische Volk schon sichtbar geworden; die deutschen Konsuln schrieben es deutlich an die kaiserliche deutsche Botschaft in Konstantinopel: ,,Vernichtung der Armenier in ganzen Bezirken'', ,,Vernichtung oder Islamisierung eines ganzen Volkes''. Doch wie reagierte die kaiserliche Regierung in Berlin? Mit Pressezensur. Wörtlich (so belegen es die amtlichen Dokumente): ,,Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit - kein Irrtum: Berlin nannte Völkermord eine Verwaltungsangelegenheit! - ,,nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu schweigen...''

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Heute, am Ende des Jahrhunderts, bombardiert das NATO-Bündnis Serbien, Belgrad, das Kosovo, weil es dort - trotz jahrelanger Warnung - die Menschenrechte bedroht sieht. Sind aber nicht auch die Menschenrechte des kurdischen Volkes außer Kraft gesetzt? Will das die NATO nicht sehen, weil Flugzeugstützpunkte auf türkischem Boden wichtiger sind, direkt vor dem Irak und seinem Öl, als die Menschenrechte der Kurden? Fragt sich nur, wie lange das gut geht, wenn die Rebellion der Unterdrückten im ganzen Nahen Osten neue Machtverhältnisse schafft. Schweigen?