taz 13.7.1999

Wo bleibt der Wechsel?

Jahrelang beklagten die Bündnisgrünen, daß die christliberale Regierung allen Menschenrechtsverletzungen zum Trotz Kurden in die Türkei abschob. Doch auch nach der rot-grünen Machtübernahme und mit einem Außenminister namens Joschka Fischer geht es weiter, als wenn nichts gewesen wäre Von Eberhard Seidel

"Die Türkei ist unser Lackmustext für die Glaubwürdigkeit in der Menschenrechtsfrage", gab Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen anläßlich ihres jüngsten Türkei-Besuchs bekannt. Das betrifft vor allem den Umgang mit den Flüchtlingen. Seit über zwanzig Jahren flüchten jährlich Tausende Menschen, vorwiegend Kurden und Kurdinnen, aus der Türkei nach Deutschland. Die wenigsten werden als politisch Verfolgte anerkannt und bekommenAsyl. 1998 waren es 15 Prozent.

Wie umgehen mit den übrigen? Die Rechtslage ist eindeutig: Die abgelehnten Asylbewerber werden zur Ausreise aufgefordert und - wenn sie nicht freiwillig gehen - in die Türkei abgeschoben.

Seit Jahren beklagen Menschenrechtsgruppen, daß die Asylsuchenden so in die Hände ihrer Verfolger ausgeliefert würden. Der ehemalige Innenminister Manfred Kanther (CDU) erfand deshalb ein Verfahren, das sicherstellen sollte, daß Deutschland seine Hände in Unschuld waschen kann: das deutsch-türkische Konsultationsverfahren. Danach garantiert die Türkei, daß den abgelehnten Asylbewerbern weder Folter noch Todesstrafe drohen. Und somit stand und steht Abschiebungen nichts im Wege.

Was von dieser "Garantie" zu halten ist, belegt die gemeinsam von Pro Asyl, dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat und dem Istanbuler Menschenrechtsverein IHD erstellte Dokumentation. "Von Deutschland in den türkischen Folterkeller - Zur Rückkehrgefährdung von Kurden".

Häufig werden die türkischen Behörden durch die Anfragen aus Deutschland erst auf die Personen aufmerksam. Und die deutschen Ämter liefern belastendes Material, das in der Türkei dann zu Ermittlungen unter Einsatz der Folter und zu Gerichtsverfahren genutzt wird.

Die 20 dokumentierten Fälle von abgeschobenen Kurden, die in der Türkei gefoltert, angeklagt und verurteilt wurden, sind durch zahlreiche Dokumente gut belegt. So gut, daß ein Sprecher des Auswärtigen Amtes gegenüber der taz verspricht: Wir nehmen jeden einzelnen Fall sehr ernst, und sie werden sicherlich in unseren neuen Lagebericht Türkei einfließen.

Das kann aber noch dauern. Deshalb fordern Pro Asyl und der Niedersächsische Flüchtlingsrat unter anderem einen Abschiebungsstopp für Kurden und Kurdinnen und die Aufkündigung des deutsch-türkischen Konsulationsabkommens.

Hüseyin Öztürk hat am 21. November 1996 in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Seine Begründung: 1992 sei er als 16jähriger von der PKK gezwungen worden, zusammen mit zwei anderen Jugendlichen in die Berge zu gehen, um die Guerilla mit Nachschub zu versorgen. Im September 1995 hat er sich selbst verstümmelt, um nicht weiter kämpfen zu müssen. Er floh vor der PKK. Nach einer Anzeige wurde er vom türkischen Staat gesucht. Da er sich sowohl von der PKK als auch dem türkischen Staat verfolgt sah, flüchtete er in die Bundesrepublik.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge glaubte Öztürk nicht und lehnte den Asylantrag am 13. 5. 1998 ab. Begründung: Die Angaben seien ausweichend und wirr. Öztürk habe die Türkei verlassen, ohne verfolgt gewesen zu sein. Das Oberverwaltungsgericht schloß sich dieser Auffassung an und meinte: Öztürk habe das Gericht nicht davon überzeugen können, daß ihm bei der Rückkehr Folter oder eine Bedrohung von Leben und Freiheit drohen. Am 7. 7. 1998 wurde das Urteil mit Beschluß des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs rechtskräftig. Nach einem Ausweisungsbeschluß flüchtet Öztürk 1998 in die Schweiz und beantragt dort Asyl. Nach sechs Monaten wurde er aufgrund eines richterlichen Beschlusses der die Bundesrepublik Deutschland übergeben. Aus der Abschiebehaft heraus stellte Öztürk am 9. 3. 1999 einen Asylfolgeantrag, der am gleichen Tag abgelehnt wurde. Öztürk trat in einen Hungerstreik. Am 23. Tag wurde die Infusionslösung von seinem Arm gelöst. Er wurde gefesselt, mit zwei Polizisten von Stuttgart nach Istanbul geflogen und der dortigen Polizei übergeben.

Öztürk wurde am 25. 3. 1999 auf dem Flughafen in Istanbul festgenommen. Aus den Gerichtsunterlagen geht hervor, daß Öztürk - wie er es im Asylverfahren vorgebracht hatte - seit 1995 gesucht wurde. Er wurde in der Anti-Terror-Abteilung in Istanbul zwei Tage lang schwer gefoltert. Unter anderem setzte man drei Mal seine Geschlechtsteile Strom unter Strom. Die türkische Polizei fragte vor allem nach Namen von Kurden, die in Deutschland um Asyl nachgesucht haben. Am 28. 4. 1999 erhob die Staatsanwaltschaft vor dem Staatssicherheitsgerichts in Malatya Anklage gemäß Artikel 125 des Strafgesetzbuchs. Eine Verurteilung nach Arikel 125 hätte die Todesstrafe zur Folge. Der Prozeß gegen Öztürk wurde am 27. Mai eröffnet.

Menduh Bingöl floh im Juli 1996 nach Deutschland und stellte einen Asylantrag. Begründung: Er sei in der Türkei wegen seiner Kontakte zur PKK fünf- bis sechs Mal festgenommen und gefoltert worden. Nachdem ein Gruppenmitglied im April 1996 verhaftet worden sei und unter Folter seinen Namen angegeben habe, suchte er in Deutschland Schutz. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte am 26. 11. 1996 den Antrag ab, da der Sachvortrag darauf hindeute, daß zumindest Teile davon frei erfunden seien.

Es sei darüber hinaus nicht nachvollziehbar, daß einer, der festgenommen wird - so wie Bingöl es von sich behauptet - über mehrere Tage hinweg in Haft bleiben muß. Zudem habe die Polizei ihn ja immer wieder freigelassen, was dafür spräche, daß Bingöl sich allenfalls in asylrechtlich unbedeutender Weise politisch betätigt habe. Das Bundesamt argwöhnte, Bingöl habe sich nur dem anstehenden Militärdienst entziehen wollen. Nachdem auch das Verwaltungsgericht Minden den Asylantrag als unglaubwürdig einstufte, wurde das Asylverfahren im Dezember 1998 rechtskräftig negativ abgeschlossen. Am 25. 2. 1999 wurde Bingöl auf dem Weg von der Arbeit festgenommen und in Büren inhaftiert.

Am 16. 3. wurde er nach Istanbul abgeschoben, von der dortigen Flughafenpolizei verhört und kam am 17. 3. zunächst frei. Am 19. 3. wurde Bingöl in der westtürkischen Stadt Edirne bei einer Ausweiskontrolle festgenommen. Nach eigenen Angaben wurde er auf der Polizeiwache gefoltert und geschlagen und nach dem Grund seines Deutschlandaufenthalts gefragt. "Ich sagte Ihnen, daß ich wegen der Arbeit nach Deutschland gegangen sei. Sie warfen mir vor, daß ich in Deutschland Mitglied der PKK gewesen sei, der PKK geholfen hätte. Sie brachten mich in ein anderes Zimmer, wo sie mir Kabel an die Fußzehen anbrachten und mich unter Strom setzten. Während ich schrie, schimpften und lachten sie. Ich wurde permanent mit dem Tod bedroht."

Nach dem Verhör wurde Bingöl gezwungen ein Geständnis zu unterschreiben. Danach verfügte ein Haftrichter seine Inhaftierung. Zwei Wochen später wurde er nach Istanbul in das Gefängnis Ümraniye überstellt. Am 19. April erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Mitgliedschaft in der PKK. Bingöl wird unter anderem die Teilnahme an Veranstaltungen der PKK in Deutschland vorgeworfen.

Mehmet C. floh im Juli 1996 in die Bundesrepublik und stellte einen Asylantrag. Seine Begründung: Nachdem er sich im Mai 1993 geweigert habe, das Amt eines "Dorfschützers" - eine Art Polizist, der in kurdischen Regionen mit den türkischen Behörden zusammenarbeitet - zu übernehmen, sei er von anderen Dorfschützern mit dem Tode bedroht worden. 1995 habe man seiner Familie das Haus gewaltsam weggenommen, weshalb er in eine andere Stadt habe ziehen müssen. Auch dort sei er mehrmals von Soldaten verhört worden. Mehmet C. fürchtete, von der Konterguerilla umgebracht zu werden.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Antrag am 10. 12. 1996 mit folgender Begründung ab: Wer sich weigere, das Dorfschützeramt zu übernehmen, habe nicht mit politischer Verfolgung zu rechnen, da, so das Bundesamt, die Übernahme des Amts auf Freiwilligkeit beruhe. Im Zweifelsfall stünde Mehmet C. außerdem eine inländische Fluchtalternative, also der Westen der Türkei, zur Verfügung. Gegen diesen Bescheid wurde Klage erhoben. Das Klageverfahren wurde vom Verwaltungsgericht Chemnitz am 15. 9. 1998 wegen angeblichen "Nichtbetreibens" eingestellt. Am 23. 3. 1999 wurde Mehemt C. überraschend festgenommen und von Berlin-Tegel nach Istanbul abgeschoben.

Gegenüber dem Menschenrechtsverein Istanbul gab Mehmet C. zu Protokoll, ein BGS-Beamter habe bei seiner Abschiebung dem Piloten einen Briefumschlag mit belastendem Material übergeben. Auf seine verzweifelte Bitte hin, dies nicht zu tun, habe der Beamte gelacht und gesagt, es werde ihm schon nichts passieren. Vom Flughafen Istanbul wurde Mehmet C. zur Anti-Terror-Abteilung gebracht und gefoltert. Unter der Bedingung, künftig als Spitzel für den türkischen Staat arbeiten zu müssen, habe man ihn freigelassen. Während seiner Haft wurde Mehmet C. unter anderem Zeuge der Folterungen von Hüseyin Öztürk.

Seit seiner Freilassung wird Mehmet C. in der Menschenrechtsstiftung behandelt. Zehn Tage nach der Abschiebung und den Folterungen waren noch immer Spuren, die vermutlich von der Folter herrühren, und die Einschnitte der Handschellen, die ihm die deutsche Polizei anlegte, zu sehen.

Mehmet C. versteckt sich zur Zeit vor der türkischen Polizei.