Nürnberger Nachrichten, 12.7.

"Eine Demokratie zweiter Klasse"

Kritisches über die Türkei

Professor Gerger beschreibt die Defizite in seiner Heimat

VON HELMUT PICKEL

NÜRNBERG/DARMSTADT - Vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Türkei gerade erst wieder wegen "schwerer Grundrechtsverletzungen" in 15 Fällen verurteilt worden. Teils ging es dabei um Folter und Mord an Kurden, teils um Eingriffe in die Meinungsfreiheit von Verlegern und Journalisten. Sämtliche Fälle, das fiel auf, hatten mit Ankaras Kampf gegen die verbotene "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) von Abdullah Öcalan zu tun.

Das Straßburger Gericht verlangt von der türkischen Regierung nicht nur, den Hinterbliebenen, Folteropfern und den Zeitungsleuten mehrere 100 000 Mark Entschädigung zu zahlen. Sondern Ankara wird vor allem auch zu Gesetzesänderungen verpflichtet, "um Folter in Zukunft auszuschließen und den Schutz der Meinungsfreiheit zu verbessern". Als Europarats-Mitglied muß sich die Türkei an solche Urteile auch halten - und doch hat sie das in der Vergangenheit selten getan.

Diskussion in Nürnberg

Um ähnliche Themen geht es auch bei einer Diskussionsveranstaltung, zu der das Nürnberger InterForum am Mittwoch (14. Juli, 20 Uhr, DGB-Haus Kornmarkt 5) den türkischen Außenpolitik-Experten Prof. Haluk Gerger eingeladen hat. Der in Darmstadt lehrende Oppositionelle, in seiner Heimat wegen kritischer Meinungsäußerungen selbst mehrfach inhaftiert, will gemeinsam mit Hans Günther Schramm (Friedensbüro Nürnberg) "Visionen für eine demokratische Zukunft in der Türkei und auf dem Balkan" entwerfen.

Welche Demokratie-Defizite sind es also, die Professor Gerger am heftigsten anprangert? "Einer der sichtbaren Mängel", sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung, "ist die völlig Leugnung der kurdischen Existenz. Fundamentale Rechte wie die Freiheit der Meinungsäußerung, das Recht auf unabhängige Information oder das Recht, sich ohne Furcht politisch zu betätigen, werden in der Türkei jeden Tag verletzt."

"Folter, außergerichtliche Hinrichtungen, ,Verschwindenlassen' - auch das sind alltägliche Vorkommnisse. Kritik am Staat und an den Streitkräften ist eine höchst riskante Sache. Der von Militär kontrollierte Nationale Sicherheitsrat regiert das Land hinter den Kulissen mit eiserner Hand. Die Liste", fährt Gerger fort, "ist also sehr, sehr lang."

"Die Armee", so der streitbare Professor, "wird letztlich auch darüber entscheiden, ob das Todesurteil gegen PKK-Führer Öcalan vollstreckt wird oder nicht. Die türkischen Medien werden die Anordnungen der Militärs artikulieren, und die Politiker werden sich fügen." Offensichtlich habe "der Staat im Staate, also die Armee" bisher aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen.

Wie seine Visionen aussehen, behält Haluk Gerger vor der Podiumsdiskussion noch für sich. Heute, erklärt er, sei die Türkei jedenfalls noch "eine zweitklassige Demokratie, der die wesentlichen Freiheiten und die Menschenrechte fehlen".