fr, 9.7.

Gerichtshof bescheinigt Ankara erneut Bruch der Menschenrechte

Türkei in Straßburg wegen Folter und Tod von Kurden sowie Verfolgung von Journalisten verurteilt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei in weiteren 15 Fällen wegen schwerer Grundrechtsverletzungen verurteilt.

STRASSBURG, 8. Juli (dpa). Bei den am Donnerstag in Straßburg verlesenen Urteilen gegen Ankara ging es um die Folterung und den Tod von Kurden sowie um die Verletzung der Meinungsfreiheit von Journalisten. Alle Fälle standen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die türkische Regierung muß den Hinterbliebenen der Toten und den Journalisten Entschädigungen von umgerechnet insgesamt mehreren Hunderttausend Mark zahlen. Sie ist außerdem zu Gesetzesänderungen verpflichtet, um Folter in Zukunft auszuschließen und den Schutz der Meinungsfreiheit entsprechend den Straßburger Urteilen zu verbessern.

Erfolgreich geklagt hatte in Straßburg die Witwe eines kurdischen Arztes. Ihr Mann wurde 1993 vor dem Krankenhaus in Diyarbakir, in dem er arbeitete, erschossen. Acht türkische Sicherheitskräfte hatten keine Anstalten gemacht, zwei flüchtige Männer zu verfolgen. Die Richter in Straßburg warfen der türkischen Justiz vor, den Fall nicht effektiv untersucht zu haben und damit gegen das Recht auf gerichtlichen Schutz eines jeden Bürgers verstoßen zu haben.

Im zweiten Fall ging es um einen bis heute vermißten Mann, der 1993 von Sicherheitskräften festgenommen und nach Zeugenaussagen gefoltert worden war. Der Türkei wurde - wie bereits mehrfach - ein Verstoß gegen das Folterverbot und das Recht auf Freiheit der Menschenrechtskonvention vorgeworfen.

Bei den 13 Fällen von Verletzung der Meinungsfreiheit waren kurdische Journalisten und Zeitungsherausgeber betroffen. Sie waren wegen Veröffentlichung prokurdischer Artikel von Staatssicherheitsgerichten wegen staatsfeindlicher Propaganda verurteilt worden.

Die Urteile des Gerichtshofes sind bindend. Das Ministerkomitee der 41 Europaratsländer wacht über ihre Einhaltung. Gegen die Türkei wurden im ersten Halbjahr dieses Jahres über 2000 Beschwerden eingereicht - mehr, als gegen jedes andere Mitgliedsland des Europarates.

Unterdessen wurden am Donnerstag in der Westtürkei vier Männer bei einer Unterschriftenaktion gegen die Todesstrafe festgenommen. Rund eine Woche nach dem Todesurteil für PKK-Chef Abdullah Öcalan wegen Hochverrats hätten die zwischen 20 und 34 Jahre alten Männer in Cerkezköy in der Provinz Tekirdag ohne Erlaubnis Unterschriften gesammelt, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag. Insgesamt hatten 39 Menschen den vom türkischen Menschenrechtsverein (IHD) vorbereiteten Text gegen die Todesstrafe unterschrieben, hieß es.

Chancen auf EU-Beitritt steigen

ESSEN (dpa). Der deutsche Außenamts-Staatsminister Günter Verheugen (SPD) rechnet damit, daß die Türkei noch 1999 den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhält. Die Staats- und Regierungschefs der EU würden sich wahrscheinlich bei ihrem Gipfeltreffen Ende des Jahres in Helsinki dazu entschließen, sagte Verheugen in Essen. Voraussetzung sei aber, daß das Todesurteil gegen PKK-Chef Öcalan nicht vollstreckt werde. Vor einem EU-Beitritt müsse die Türkei auch tiefgreifende Reformen unter anderem im Strafvollzug und in der Kurdenpolitik unternehmen. Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit habe die Bereitschaft dazu signalisiert. "Wir waren noch nie so weit wie zur Zeit", sagte Verheugen.