Kölnische Rundschau, 9.7.

"Grass-Aussage ist grotesker Unsinn"

"Rundschau"-Interview mit dem Bonner Innenminister Otto Schily zu Kosovo, Kriminalität und Asylproblemen

Er stand von Anfang an im Brennpunkt des neuen rot-grünen Kabinetts nach der Wahl: Otto Schily. Ob es um das neue Staatsbürgerschaftsrecht, seine Aussage, daß in Deutschland in Sachen Zuzug von Ausländern die Grenze der Belastung erreicht ist, oder um die Kurdenproteste ging - zuständig war immer der neue Bundesinnenminister. Im "Rundschau"-Gespäch nimmt Schily dazu Stellung.

Frage: Herr Minister, Sie waren Mitglied der Grünen und stehen als Person wie kaum ein anderer für das "rot-grüne Projekt". Was tut sich da bei den Grünen: Händel oder Harakiri?

Schily: Harakiri ist das sicher nicht. Die Partei ist derzeit etwas unruhig. Aber wir sollten uns da nicht einmischen. Wir sind weder Helfer noch Supervisor. Und die beiden Fischers sind doch erfolgreiche Mitglieder im Kabinett.

Frage: Und der berühmte dritte Mann?

Schily: Der ist viel im Gespräch. Wie sie mit ihm zurechtkommen ist auch Sache der Grünen. Als Koalitionspartner müssen wir nur stärker darauf achten, uns endlich auf unser Regierungsprogramm zu konzentrieren. Jetzt geht es um das große Projekt der Haushaltskonsolidierung. In diese Gesamtverantwortung muß sich jeder einfügen.

Frage: Für den Bereich des Innenministers zählt dazu die Wahrung der inneren Sicherheit in der Bundesrepublik. Wählt die kurdische PKK nach dem Todesurteil für Öcalan eine Strategie der Eskalation?

Schily: In Deutschland gab es zwar Brandanschläge, aber das waren wohl keine koordinierten Aktionen, nicht den Ereignissen vom Frühjahr dieses Jahres vergleichbar. Mir liegt daran, daß wir jenseits der PKK zu einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage kommen. Das geht nur durch das Mitwirken der türkischen Regierung. Sie muß die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der kurdischen Bevölkerung verstehen - ohne die Integrität des Staates in Frage zu stellen.

Frage: Hat die Bundesregierung politische Möglichkeiten, eine Nicht-Vollstreckung der Todesstrafe zu erreichen?

Schily: Ich gehöre zu denen, die zu einer vertieften Zusammenarbeit mit der Türkei kommen wollen. Auch mit der Langzeit-Perspektive Beitritt zur Europäischen Union. Der Konflikt mit den Kurden ist militärisch nicht zu gewinnen. Das sollte die Türkei dazu ermutigen, den Konflikt zu beenden, und nicht mit der Vollstreckung ein neues Anfachen der Gewalt zu provozieren.

Frage: Thema Kosovo: Gestern wurden die ersten Kosovo-Flüchtlinge wieder in ihre Heimat geflogen. Warum jetzt? Noch ist die Lage im Kosovo schwer überschaubar.

Schily: Wir haben nur eine beschränkte Zahl von Menschen aus Mazedonien evakuiert. Wir haben das gemacht, um die Lage in Mazedonien und in den Flüchtlingslagern zu stabilisieren. Inzwischen sind die Mehrzahl der Flüchtlinge aus den Lagern in Mazedonien zurückgekehrt, dort leben heute gerade noch 20 000 Menschen. Damit ist die Grundlage für unsere Evakuierung entfallen.

Frage: Was geschieht mit den rund 200 000 ausreisepflichtigen Kosovaren, die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind?

Schily: Das ist in der Tat das größere Problem. Ich rechne damit, daß wir deren Rückführung spätestens im nächsten Jahr abgeschlossen haben werden.

Frage: Würden die Ausreisepflichtigen auch mit Zwang in ihre Heimat gebracht?

Schily: Notfalls muß davon Gebrauch gemacht werden.

Frage: Von der Rückführung zum Thema "Abschiebung". Günter Grass hat der Bundesrepublik in dieser Woche "die Fortsetzung der ethnischen Säuberung" vorgeworfen. Zitat: "Die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan. . . finden bei und auf legale Art und Weise eine Entsprechung. Irgendeine Behörde entscheidet, daß uns unliebsame Ausländer in dieses oder jenes Land zurückgeschickt werden können."

Schily: Das ist wahrlich grotesker Unsinn. Es entscheidet nicht irgendeine Behörde, sondern es findet ein rechtsstaatliches Verfahren statt. In der Tat stellen wir es nicht in das Belieben jedes Menschen, der aus dem Ausland zu uns kommt, ob er bleiben kann oder nicht. Dafür gibt es klare Regeln. Es gibt eine breite Palette von Anspruchsgrundlagen. Auf dieser Grundlage wird entschieden. Die Betrachtungsweise von Grass geht an der Wirklichkeit völlig vorbei. Jedes Wort darüber ist eigentlich zu viel. Abschiebung ist eine Sanktion. Wenn wir im Notfall eine rechtsstaatliche Entscheidung nicht erzwingen, dann können wir sie auch gleich lassen. Das wäre so, als wenn ich einen Schuldner zur Zahlung verurteile, aber keinen Gerichtsvollzieher schicken darf.

Frage: Bleiben Sie bei Ihrer umstrittenen Aussage, daß in Sachen Ausländerzuzug die Grenze der Belastung überschritten sei?

Schily Gegenwärtig ja. Wenn wir heute ein Zuwanderungsgesetz machen würden, kämen wir - jenseits dessen, was an Zuwanderung ohnehin zu verzeichnen ist - auf keine nennenswerte Quote. Die Grünen haben ja mal die Zahl in die Welt gesetzt, daß wir pro Jahr 200 000 Menschen mehr ins Land holen sollten. Da habe ich eine ganz einfache Gegenfrage: Welches Bundesland, welche Gemeinde möchte diese 200 000 aufnehmen?

Frage: Zur Kriminalitätsentwicklung: Seit Jahren gehen die Fallzahlen zurück. Aber das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung bleibt.

Schily: Das ist falsch. Das Bundeskriminalamt hat 1998 eine Untersuchung gemacht. Danach hat sich das subjektive Sicherheitsgefühl der Bundesbürger verbessert. Das zeigt auch eine ganz aktuelle Studie von Allensbach.

Frage: Besorgniserregend ist die zunehmende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Müssen wir uns an diese Entwicklung gewöhnen?

Schily: Nein, im Gegenteil. Nur kann der Gesetzgeber nicht das aufholen, was im Elternhaus und in der Schule versäumt wird. Es geht um Zuwendung; darum, was wir den Jugendlichen an Vorbildern, an Bildern an die Hand geben.

Frage: Die elektronischen Medien liefern eine Flut von Gewaltbildern.

Schily: Leider. Da geht es auch um unser Menschenbild: Erkennen wir den Menschen als geistig-seelisches Wesen an oder reduzieren wir ihn auf ein mechanistisches Weltbild? Was bedeutet denn der Artikel eins der Verfassung? Als hübsches Ornament ist er nutzlos: Wenn ich mich umschaue, erkenne ich, daß die Würde des Menschen auch in der uns umgebenden Bildersprache tagtäglich in erheblicher Weise angetastet wird. Das bleibt nicht ohne Einfluß auf Jugendliche. Das liegt also vorwiegend im Eigenverantwortungsbereich von Familie, Schule und Medien.

Frage: Und der Gesetzgeber?

Schily: Schauen Sie, man kann ja darüber reden, Kindern zum Beispiel per Chip den Giftschrank zuzumachen und den Zugang zu Gewaltszenen im Fernsehen zu versperren. Aber dann gehen sie einfach in die nächste Videothek. Das zeigt, wo die eigentliche Verantwortung liegt.

Norbert Wallet